
FOTO: KAPUZINER/TOBIAS RAUSER
Der Sonnengesang und seine biblischen Geschwistergesänge
Von Schwestern und Brüdern singt der Sonnengesang. Doch auch das Werk selbst hat Geschwister: Ein Blick der Theologin Veronika Bachmann auf drei biblische Lieder, deren Klänge das berühmte Gebet von Franziskus aufnimmt.
Genesis 1,1–2,3 oder: Ein Schöpfungshymnus als Auftakt der Bibel
Gleich vorweg: Genesis 1, der Auftakt der jüdischen und christlichen Bibel, schildert nicht historisch zuverlässig, wie Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat. Schon allein der Blick auf die Erzählung, die in Genesis 2,4 folgt, korrigiert ein solches Missverständnis: Hier wird nochmals in anderer Form auf Gottes Erschaffung der Welt Bezug genommen. Beide Texte, Genesis 1 und Genesis 2–3, erzählen Unterschiedliches. Nicht, um sich zu relativieren, sondern um die Gedanken, in welchem Verhältnis die Welt und ihre Lebewesen zueinander und zu Gott stehen, zu erweitern.
Wie beim Sonnengesang des Franz von Assisi handelt es sich bei Genesis 1 um einen Hymnus, der in mehreren Strophen Gottes Größe besingt. Blickt der Sonnengesang – von einem Auf- und Abgesang gerahmt – auf unterschiedliche Geschöpfe, durch die das Weltganze kosmisch auf Gott hin lebensförderlich zusammengehalten wird, so spielt Genesis dichterisch kunstvoll ein Werden durch, bei dem Gott greifbar wird als Erschaffer einer Welt, die allen Geschöpfen besondere Lebensräume zur Entfaltung bietet. Von den Schöpfungswerken ist nicht als Brüder und Schwestern die Rede. Aber auch Genesis 1 benennt, was sie zusammenhält, nämlich dass Gott ihnen allen durch das Ordnen eines ursprünglich lebensfeindlichen Chaos (Gen 1,2: «Die Erde war wüst und leer») Raum zum Wirken, Wachsen und Wimmeln geschenkt hat. Im Bild von sechs Tagen werden sechs Phasen des Werdens beschrieben. Mehrfach wird betont, dass «Gott sah, dass es gut war», am Ende gekrönt durch die Aussage: «Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut» (Gen 1,31).
An diesem Punkt wird besonders deutlich, wozu der Hymnus diejenigen, die ihn lesen, singen und beten, anleiten will: Es geht um eine Haltung, positiv, staunend und dankbar auf die Welt und den gesamten Kosmos zu blicken. Obwohl den Menschen eine besondere Rolle im Verhältnis zu anderen Geschöpfen eingeräumt wird (Gen 1,26 –28), kommen sie als Teil einer guten Schöpfung in den Blick, für die sie – als Gottes Ebenbild geschaffen – eine besondere Verantwortung tragen. Sich die Erde untertan zu machen und über die Tiere zu herrschen (Gen 1,26.28) wird über den Gedanken der Gottebenbildlichkeit kanalisiert: Es geht um ein Herrschen, das kein Untergraben von Gottes Zuwendung zur gesamten, wunderbaren Schöpfung zulässt.
Welche Bedeutung kommt dem Rhythmus des Werdens in sechs Tagen zu? Aufschlussreich ist hierfür, dass der siebte Tag als Ruhetag Gottes besungen wird, den Gott besonders segnet (Gen 2,2–3). Damit verschränkt der Hymnus Alltag und Glauben der Menschen, für die er komponiert worden ist, miteinander. Konkret setzt er die Kenntnis eines Siebentage-Rhythmus voraus. Genesis 1 verleiht diesem Rhythmus theologische Tiefe und Weite: Das sechstägige Arbeiten der Menschen erinnert vor diesem Horizont unmittelbar an die Welt als wunderbares Geschenk Gottes, der siebte Tag, den Menschen als Sabbat vertraut, lässt sich als besonderer (Zeit-)Raum verstehen, diesen Gott in Dankbarkeit und Ehrfurcht zu loben.
Von Gott, der sich wunderbar um alle Geschöpfe kümmert: Psalm 104
Die Forschung ist sich einig, dass sich der Sonnengesang in besonderer Weise an gewisse biblische Psalmen anlehnt, so an Psalm 19, 96 und 148. Hier soll mit Psalm 104 auf einen anderen Psalm geblickt werden. Er sticht unter den biblischen Schöpfungstexten durch seine Länge hervor. Auch hier haben wir einen Hymnus auf Gott vor uns, diesmal aus der Perspektive eines Individuums, das die Grösse Gottes besingt.
Als Auftakt wird auf kosmische Phänomene Bezug genommen, die Gott im Bild eines Königs erscheinen lassen, wie es ihn irdisch nie geben kann: Die Balken seines Palastes werden als in den (Ozean-)Wassern verankert imaginiert (V. 3), Wolken werden als sein Wagen, Winde als seine Boten umschrieben. In den folgenden Versen (V. 5–9) wird diesem kosmischen König die Erschaffung der Welt zugeschrieben – hier durch majestätisches Eindämmen und Kanalisieren der Urwasser. Weite Passagen dieses Psalms sind spannend zu lesen, weil sie beschreiben, wie Gott auch nach der «creatio prima» weiter zu seinen Geschöpfen schaut. Theologisch spricht man in diesem Zusammenhang von der «creatio continua». Die Menschen, das ist bemerkenswert, sind nur am Rande im Blick. Sie gehören zur Gesamtheit der Geschöpfe mit dazu, neben den Wildeseln, den Vögeln, den Steinböcken oder den jungen Löwen. Zu ihnen allen, so besingt es der Psalm, schaut Gott in beeindruckender Fürsorglichkeit; ihnen allen hat er passende Lebensräume zugeteilt. Wie in Genesis 1 und im Sonnengesang werden Sonne und Mond genannt (V. 19–23). Vergleichbar mit Gen 1 steht ihre rhythmisierende Funktion im Vordergrund – für Menschen kann der Rhythmus von religiösen Festzeiten mitgedacht werden.
Anders als Genesis 1 benennt der Psalm ins hymnische Lob eingebettet auch Punkte, die aus menschlicher Sicht auf den ersten Blick düster wirken: Gott ist die Macht, die Leben schafft, aber den Lebewesen den Atem auch wieder nimmt (V. 27–30). Hier lässt sich eine Verbindung zur expliziten Erwähnung von Schwester Tod im Sonnengesang entdecken. Auch die Realität von menschlichen Verfehlungen und ihren destruktiven Folgen sind Thema (V. 35). Die Vision einer friedlichen Welt wird allerdings noch ohne Bezugnahme auf die erst später entwickelte Hoffnung auf Auferstehung artikuliert, wie sie in der Sonnengesang-Strophe zum Tod manifest wird. Zentral bleibt, sich im Hier und Jetzt über Gott zu freuen und umgekehrt für Gott eine Freude zu sein (V. 31–34). Dass dazu das Respektieren aller Lebewesen und ihrer Lebensräume gehört, ist selbstredend.
Das «Laudato si‘» im Danielbuch (Daniel 3)
Das Danielbuch erzählt in Dan 3 davon, wie Nebukadnezzar ein goldenes Standbild machen liess und befahl, dass sich alle vor ihm niederzuwerfen und es zu verehren hätten. In der Erzählung treten sodann Babylonier auf, die beim König drei junge Judäer anschwärzen, Hananja, Asarja und Mischaël. Der König reagiert zornig auf deren Weigerung, das Standbild zu verehren, und lässt sie als Strafe in einen Feuerofen werfen. Vor ihrer Hinrichtung merken die drei an, dass sie einem Gott dienen, der sie retten könne, fügen allerdings an: «Und falls nicht, so sei dir, König, kundgetan, dass wir deinen Göttern nicht dienen und das goldene Standbild … nicht verehren» (V. 18). Der Fortgang bekräftigt die Rettungsmacht ihres Gottes: Das Feuer vermag sie nicht zu töten, der König ist beeindruckt und erkennt, dass sie «Diener des höchsten Gottes» seien (V. 93; ev. Bibelausgaben: V. 26).
In der griechischsprachigen Version der Erzählung wird die Situation der drei jungen Männer im Feuerofen u. a. durch ein Gebet der drei Männer ausgeschmückt. Es ist ein Lobpreis Gottes, der mit einem sechsmaligen «Gepriesen bist du …» einsteigt (gr.: eulogetos ei …; lat.: benedictus es) und sodann mit einem Aufruf zum Gotteslob an alle Schöpfungswerke fortfährt (gr.: eulogeite …; lat.: benedicite). Alles, was im Himmel ist, von den Engeln bis zu den Sternen, alle Naturgewalten, vom Regen bis zu den Blitzen, alle Schöpfungswerke auf der Erde, von den Bergen bis zu den Flüssen, sowie alle irdischen Lebewesen, von den Meerestieren bis zu den Menschen, werden im Rahmen dieser Aufforderung aufgezählt. Bei den Menschen angelangt, werden am Ende namentlich auch die drei Judäer zum Lob(segnen) aufgefordert. Erst bei ihnen folgt eine Begründung: «Denn er hat uns der Unterwelt entrissen …» (V. 88). Ein allgemeiner Aufruf zu Dank und Lob, hier begründet mit Verweis auf die ewig währende Güte Gottes, bildet den Abschluss.
Beim Gebet der drei judäischen Jünglinge erinnert der litaneiartige Charakter an den Sonnengesang. Daniel 3 setzt jedoch noch stärker als Letzterer auf die Kraft der Aufzählung: Es ist die Aufzählung allein, die den Zusammenhang zwischen Himmel und Erde, zwischen Mensch, Tier und Umwelt schafft: Alle gehören im Gotteslob zusammen. Dass die drei Jünglinge am Ende ihre Namen einsetzen, lädt zur Nachahmung ein: Schaffen wir es wie sie, unseren Namen explizit einzusetzen und einen konkreten Grund für unser Gotteslob – eingebunden ins Lob der gesamten Schöpfung – zu artikulieren?
Dieser Artikel von Veronika Bachmann ist zuerst in ITE erschienen, dem Magazin der Kapuziner in der Schweiz. Veronika Bachmann ist Theologin und in Luzern geboren. Sie ist seit April 2025 Professorin für Biblische Einleitung und biblische Hilfswissenschaften an der Universität Würzburg.
