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Die Methode der Ruminatio: Atempause im Alltag
Die Welt wird immer hektischer. Gesucht wird ein innerer Anker und mehr spirituelle Gelassenheit. Br. Thomas Dienberg präsentiert dazu eine Übung für eine Atempause der Seele: die Methode der „Ruminatio“.
Die Ruminatio ist eine sehr einfache und alte Gebetsmethode. Das lateinische Verb „ruminare“ bedeutet so viel wie „wiederkäuen“. Schon im Alten Testament ist diese Weise des Betens im Psalm 1, 1–2 angedeutet, wenn es dort heißt: „Selig der Mann, der nicht nach dem Rat der Frevler geht, nicht auf dem Weg der Sünder steht, nicht im Kreis der Spötter sitzt, sondern sein Gefallen hat an der Weisung des HERRN, bei Tag und bei Nacht über seine Weisung nachsinnt.“
Bei Tag und Nacht über die Weisung des Herrn nachdenken: Was heißt das und wie geht das? Die Wüstenväter und Wüstenmütter im 3.–6. Jahrhundert setzten diese Aufforderung in die Praxis um. Wichtige Punkte ihres alltäglichen Lebens waren das morgendliche Hören eines Schrifttextes sowie das Psalmengebet. Die Methode der Ruminatio besagte dabei, dass sich der Wüstenvater/die Wüstenmutter einen Psalmvers oder ein biblisches Wort suchte, das sie ansprach. Mit diesem Wort gingen sie durch den Tag, indem sie es immer wieder für sich halblaut aussprachen und wiederholten, es quasi ‚wiederkäuten‘. So begleitete dieses Wort die Väter und Mütter während der Arbeit, während der Erholung, während des Essens bis in den Abend hinein. Das „Wiederkäuen“ gab ihnen dabei die Gewissheit, in der Gegenwart Gottes zu leben und sich dieser Gegenwart bewusst zu sein, ohne lange Gebets- oder Meditationszeiten dafür einzuplanen. Immer wieder holten sie das Wort aus ihrem Gedächtnis hervor, murmelten es oder sprachen es in Gedanken aus, ähnlich einer Kuh, die wieder und wieder die vorgekaute und hinuntergeschluckte Nahrung hochwürgt und wiederkäut.
In der Gebetsweise wird somit quasi die wunderbare Speise des Wortes Gottes erneut verkostet und belebt und nährt die Wüstenväter und ‑mütter den Tag über. In späteren Jahrhunderten wurde diese Methode der Ruminatio aufgegriffen und findet sich in vielen geistlichen Schriften der Mystikerinnen und Mystiker, bis hin zur Empfehlung Martin Luthers, abends ein Wort der Schrift mit ins Bett zu nehmen und es wie eine Kuh wiederzukäuen.
So funktioniert die Übung: Am Morgen wähle ich ein Schriftwort aus. Das kann ein Psalmvers sein, ein kurzer Satz aus der Heiligen Schrift – entweder weil das Wort anspricht oder auch weil es irgendwie provoziert. Dieses Wort murmeln Sie in regelmäßigen Abständen halblaut in allem, was Sie tun. Was immer an Gedanken oder Assoziationen kommt, verkosten Sie es. Denken Sie nicht zu sehr darüber nach, denn diese Gebetsmethode will den Leib nähren und nicht nur den Verstand. Es geht nicht ums Analysieren und Denken, sondern darum, das Wort mit in den Alltag zu nehmen und diesen dadurch mit der Quelle unseres Glaubens, der Bibel, zu verbinden.
Was bringt es mir? Das Wiederkäuen von biblischen Worten durch den Tag verbindet auf der einen Seite die Bibel mit dem Alltag. Zum anderen kann es heilsam wirken, indem es mich mit der Quelle verbindet und mir deutlich macht, worauf es wirklich im Leben ankommt. Die Regelmäßigkeit und das stete Wiederholen üben eine beruhigende Wirkung aus, ähnlich dem Rosenkranz oder Litaneien. Nicht die Aussage als solche ist wichtig, nicht die Übung, sondern die Wirkung, und die kann sehr heilsam sein. Das Wort Gottes wird alltäglich. Es begleitet mich wie selbstverständlich durch den Tag. Gleichzeitig kann es mich gerade auch in hektischen Zeiten erden und mir ein wenig Gelassenheit und auch Ruhe geben.
Wieviel Zeit wird über den Tag verteilt benötigt? Es braucht nicht viel Zeit, um die Ruminatio einzuüben. Am Morgen vor der Arbeit nehme ich mir die Heilige Schrift, lese entweder einen Abschnitt aus der Bibel oder schlage gleich die Psalmen auf. Ich wähle einen Vers, der mich anspricht und gehe damit in den Alltag, halblaut murmelnd, in Gedanken sprechend. Am Abend ist es hilfreich, vor dem zu-Bett-Gehen kurz hinzuschauen: Wie war es? Wie hat mich das Wort begleitet? Wie geht es mir? Ich danke Gott für seine Gegenwart und beschließe den Tag. Insgesamt benötigen Sie also am Morgen vielleicht fünf bis zehn Minuten, ebenso am Abend.
Der Text von Br. Thomas Dienberg ist zuerst in cap! erschienen, dem Magazin der Kapuziner. Br. Thomas Dienberg ist auch Autor des Buches „Spirituelle Atempausen: 40 Übungen für die Seele“. Das Buch bietet kurze Übungen (wie diese hier vorgestellte) aus der reichen Tradition der christlichen und klösterlichen Spiritualität, die sich mühelos in den Alltag integrieren lassen. Weitere Infos zum Buch finden Sie hier.