
FOTO: Agnete Brun
Jon Olav Fosse
ist Norweger und Autor. Im Jahr 2023 bekam der Katholik den Literaturnobelpreis.
Interview mit Nobelpreisträger Jon Fosse: „Alles ist Gnade“
Literatur-Nobelpreisträger Jon Fosse ist gläubiger Katholik. Der Norweger sagt im Interview, warum eine Welt ohne Gott für nicht denkbar ist und warum er keine Angst vor dem Tod hat.
Herr Fosse, was ist einfacher: glauben oder schreiben?
Jon Fosse: Es kommt darauf an. Alles ist leicht, wenn man es schafft. Wenn man es nicht schafft, ist es unmöglich. So ist es mit dem Schreiben, so ist es mit dem Glauben. Ich hatte nie eine Schreibblockade, nachdem ich ernsthaft angefangen hatte zu schreiben. Und ich hatte nie große Probleme mit dem Glauben, nachdem ich angefangen hatte zu glauben. Natürlich kann ich mein Schreiben nicht rational erklären, so wie ich meinen Glauben nicht rational erklären kann. Wenn ich es versuche, fürchte ich, dass es nur dazu führt, dass ich nicht schreiben kann, dass ich nicht glauben kann. Schreiben ist eine Reise ins Unbekannte, so wie auch der Glaube.
Und was ist schwieriger: über Gott nachzudenken oder über sich selbst?
Um Ihnen eine ehrliche Antwort zu geben: Ich verstehe mich selbst nicht, und ich verstehe Gott nicht. In beiden Fällen habe ich am Ende viele Fragen. Als erschaffenes Wesen ist es zumindest für andere nicht so schwer, mich zu verstehen oder zu beschreiben. Wären wir nicht-erschaffene Wesen, hätten wir überhaupt kein Konzept, Gott zu verstehen. Und wie der heilige Augustinus treffend schrieb: Wenn du denkst, dass du es erfasst hast, kannst du sicher sein, dass es nicht Gott ist.
Wann und wodurch haben Sie versucht, Gott zu erfassen?
Das erste Mal war, als ich mit sieben Jahren aufgrund eines Unfalls dem Tod nahe war. Ich sah mich von einem schimmernden und friedlichen Ort aus, es war ein Gefühl der reinen Glückseligkeit. Mehr will ich dazu gar nicht sagen. Nur dass es Jahre dauerte, bis ich bewusst begann, an Gott zu glauben.
Und heute hat Gott einen festen Platz in Ihrem Leben?
Gott ist der Grund, warum ich existiere. Aber ich bin zu einem großen Teil von ihm getrennt. Ich glaube, dass ich von Gott gekommen bin und zu Gott zurückkehren werde.
Eine Welt ohne Gott ist also nicht denkbar?
Wir alle leben mehr oder weniger in unseren Illusionen. Und wenn wir etwas so Nahes und so Fernes wie Gott nicht erfahren oder nicht akzeptieren können, dann bin ich sicher, dass umgekehrt Gott uns zumindest akzeptieren und verstehen kann. Aber niemand von uns lebt wirklich ohne Religion. Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Diese Fragen sind ihrer Natur nach religiös.
Zweifeln Sie an Gott?
Ich zweifle nicht an Gott, weil ich an nichts zweifeln kann, mit dem ich bereits Erfahrung habe. Aber Gott ist für mich meist sehr weit weg und gleichzeitig sehr nah. Wenn ich versuche, Gottes Absichten tatsächlich zu verstehen, kann ich zumindest meine Zweifel haben, ob dieser Gott, an den ich glaube, ein allmächtiger Gott ist, oder ob er sich erst am absoluten Ende als allmächtig entpuppen wird. Es gibt übrigens viele dogmatische Aussagen über Gott, die ich nicht glaube, so dass ich mich auch gut als Ketzer betrachten könnte (lacht).
Sie sprechen vom absoluten Ende. Haben Sie Angst vor dem Tod?
Ich habe keine Angst vor dem Tod. Zumindest kann ich das hier so sagen, wie ich jetzt hier sitze. Aber wenn ich in einer Stunde oder so sterben würde, hätte ich Angst davor, was mit meiner Familie passieren würde, bei all dem Chaos, das ich hinterlasse. Und ich mag nicht daran denken, dass ich zu Asche verbrannt werde oder dass mein Körper allmählich in einem Sarg verschwindet, in völliger Dunkelheit.
Das sind doch nur Äußerlichkeiten und irdisches Denken.
Genau. Deshalb muss ich mich der Rationalität zuwenden und sagen, dass der im Sarg verschwindende Körper ja nicht mehr mein Ich ist. Mein Atem und mein Geist sind weg. Ich bin also aus meinem materiellen Körper herausgenommen worden als ein geistiger Körper. Das, was dann passiert, verstehen wir nicht. Der heilige Paulus schreibt, dass wir den Tod nicht verstehen, weil er zu Gott gehört. Und Gott können wir nie ganz verstehen.
Warum sind Sie eigentlich zur katholischen Kirche konvertiert?
Das ist eine lange Geschichte, zu lang, um sie hier nachzuerzählen. Ich habe darüber in meinem Buch mit dem Titel „The Mystery of Faith“ geschrieben. Hier die Kurzversion: Ich fühlte mich nie zugehörig zum lutherischen Christentum, mit dem ich aufgewachsen bin, also habe ich die norwegische Kirche verlassen und fand irgendwann die Quäker. Ich nahm an ihren Versammlungen teil, ein organisierter Quäker war ich aber nie.
Die Quäker sind eine religiöse Gemeinschaft, die gemeinsam auf der Suche ist. Die persönliche Erfahrung steht im Fokus, weniger Ritus und Kirche. Wie ging Ihre Suche weiter?
Nach einer Weile verspürte ich ein starkes Bedürfnis, einer größeren Gemeinschaft von Gläubigen anzugehören. Die katholische Messe gefiel mir sehr, ebenso wie der Anblick von Menschen, die allein in einer Kirche sitzen und sich tief ins Gebet begeben. Dabei spürte ich auch, dass ich eine institutionalisierte Kirche brauchte. Ich las in jener Zeit irrsinnig viel. Der Mystiker Meister Eckhart faszinierte mich besonders. Und ich dachte mir, wenn Meister Eckhart katholisch sein konnte, dann kann ich es auch. (lacht)
Ist der Papst als Oberhaupt der Kirche für Sie problematisch?
Ich denke, das hängt vom jeweiligen Papst ab. Wenn man tiefer die Kirchengeschichte schaut, war gewiss nicht jeder Papst ein guter Papst. Und die Idee, ein Zentrum zu haben, eine Person, die sozusagen die Ganzheit der Kirche repräsentiert, ist an sich schon gut. Ich glaube auch, dass es eine nahe Verbindung zwischen Jesus und Petrus und wiederum zwischen Petrus und den Päpsten gibt. Diese apostolische Sukzession bringt mich als Katholiken nah an Christus. Ein „Ja“ zum Papst ist somit auch ein „Ja“ zu Christus. Damit sage ich aber nicht, dass andere Christen „Nein“ zu Christus sagen.
Ich habe gelesen, dass Sie jeden Tag den Rosenkranz und das Vaterunser auf Latein beten. Stimmt das?
Ich bete nicht jeden Tag den ganzen Rosenkranz, aber jeden Tag eine Version davon. Dazu gehört natürlich das „Ave Maria“, ebenso das Apostolische Glaubensbekenntnis und das Vaterunser. Früher habe ich auf Latein gebetet, aber jetzt bin ich zu meiner eigenen norwegischen Übersetzung übergegangen. Die Wiederholungen erzeugen ihre eigenen Bedeutungen. Bedeutungen, die erst durch die Wiederholung besonders werden. Ich klebe dabei nicht am Wortsinn der Verse. Normalerweise bete ich meine Version des Rosenkranzes, bevor ich einschlafe.
Hört Gott unsere Gebete?
Ja, davon bin ich überzeugt. Ich denke, dass Gott im Voraus alles weiß, was passieren wird. Also: Ja, er kennt und hört unsere Gebete, er hat sie bereits alle gehört.
Erhört er sie auch?
Das hängt davon ab, was ich für Gottes Fügung halte und für wie groß ich seine Macht halte, in unser Leben einzugreifen. In dieser Welt gibt es einen ständigen Kampf zwischen den Herrschern dieser Welt und Gott. Nur auf der anderen Seite ist Gott allmächtig.
Für wen oder was beten Sie?
Ich bete fast immer für andere Menschen, fast nie für etwas, das mit mir selbst zu tun hat. Ich bete für meine Familie, meine Kinder, meine Freunde. Und für jemanden, von dem ich das Gefühl habe, dass er es braucht, oder der mich gebeten hat, für ihn zu beten. Und wenn jemand, den ich kannte, tot ist, bete ich immer für ihn oder sie, auch wenn ich ihn oder sie nur ein bisschen kannte.
Für sich selbst beten Sie kaum?
Eigentlich nur Dankgebete. Ich danke Gott für alles, was ich bekommen habe. Mein eigenes Leben ist ein Geschenk, meine Familie, meine Fähigkeit zu schreiben. Anders ausgedrückt: Alles ist Gnade.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person: ist Norweger und wurde 1959 geboren. Er wuchs in der norwegischen Küstenstadt Haugesund am Hardangerfjord auf und studierte vergleichende Literaturwissenschaft. Bekannt wurde er als Autor zahlreicher Bücher, im Jahr 2023 erhielt Fosse den Nobelpreis für Literatur. Das Komitee des Literaturnobelpreises würdigte damals insbesondere die „innovativen Theaterstücke und seine Prosa, die dem Unsagbaren eine Stimme geben“. Sein Verlag bezeichnet Fosse als „säkularen Mystiker, der in seinem Werk das Geheimnis der Schöpfung beschwört“, als einen, „der in der Tradition des Staunens und Zweifelns steht“. Der Katholik (Fosse konvertierte 2013 zum Katholizismus) gilt als eine der wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen norwegischen Literatur. Bekannt wurde er außerdem durch seine weltweit aufgeführten Dramen, die auch im deutschsprachigen Raum (etwa in Salzburg, Berlin oder Hamburg) inszeniert wurden. Zu den bekanntesten Romanen von Jon Fosse zählen „Melancholie“, „Morgen und Abend“ oder die drei Bände der „Heptalogie“. Viele seiner Werke sind im Rowohlt-Verlag erschienen. Der Norweger lebt unter anderem in Österreich in Hainburg an der Donau (außerdem in Oslo und Bergen). Grund für die Wohnsitzwahl ist seine Frau Anna, die aus der slowakischen Hauptstadt Bratislava kommt. Da Fosse zwar Deutsch, aber kein Slowakisch spricht, fiel die Wahl auf einen Ort in Österreich, der nur wenige Minuten von Bratislava entfernt ist.
Das Interview führte Br. Michael Masseo Maldacker aus dem Kapuzinerkloster in Salzburg. Es ist zuerst in cap!, dem Magazin der Kapuziner erschienen.