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„Mittelmaß ist nicht dein Beruf“
Dieses Zitat aus dem Tagebuch von Viktrizius Weiß irritiert. Besser, strenger, heiliger? Nicht die Mitte als Maß? Ein Text von Br. Thomas Schied über die gesunde Suche nach dem seelischen Gleichgewicht.
Wer Ferdinand von Schirachs Buch „Nachmittage“ gelesen hat, wird sich vielleicht an die Erzählung „zweiundzwanzig“ erinnern. Schirach berichtet darin von seiner Begegnung mit dem alten Studienfreund Peter Middleton. Dieser lebt mittlerweile in Oslo. Dort hat der erfolgreiche Chemiker und Philosoph nach einer tiefgreifenden Erfahrung im nordirakischen Sindschar seinen Frieden gefunden. Er erzählt davon, wie er in der zerstörten Stadt aus dem Auto gestiegen und plötzlich von einer großen und durchdringenden Klarheit überwältigt war: „Wir können nur in der Mitte leben. Jedes Extrem ist falsch.“ Dann führt er Schirach zu einem kleinen unbedeutenden Supermarkt abseits der großen Einkaufsstraße. Dort habe er nicht nur seinen Frieden, sondern auch seine Mitte gefunden. Es stellt sich heraus, dass er der Besitzer dieses kleinen Ladens ist. Auf den erstaunten Einwand Schirachs, es handle sich hier doch nur um einen Supermarkt, erwidert Middleton: „Nein mein Freund, das ist die Mitte.“
Eine Gesellschaft im Selbstoptimierungswahn
Vielleicht berührt die Erzählung in Schirachs Buch „Nachmittage“ deshalb so sehr, weil es diese Sehnsucht nach einer Mitte, nach einem Ort der Ruhe und der Zufriedenheit, in uns allen gibt. Gleichzeitig provoziert die Geschichte in einer Zeit und in einer Gesellschaft, die fast zwanghaft auf Selbstoptimierung und ständige Verbesserung des Einzelnen ausgerichtet ist. Wer ist nicht davon beeinflusst? Und wer ertappt sich nicht selbst dabei, besser, erfolgreicher, schöner, begehrter, reicher, oder was auch immer werden zu wollen?
Im Gespräch mit Menschen, die sich für Meditationsangebote und spirituelle Einkehrzeiten interessieren, fällt auf, dass es auch hier zunehmend um Themen der Selbstverbesserung im beruflichen und privaten Bereich geht. Freilich sind das Themen, die der christlichen Askese nicht fremd sind. Geht es doch von alters her bei vielen asketischen Übungen ebenfalls um die Verbesserung der eigenen Lebensgestaltung – oft genug im Blick auf eine religiöse Praxis oder die moralische Integrität.
„Du musst nach Heiligkeit trachten“
Im Tagebuch des bayrischen Kapuziners Viktrizius Weiß stoßen wir auf einen Satz, der aufhorchen lässt. Er schreibt, wohl mit dem Anliegen, sich selbst zu motivieren: „Du musst nach Heiligkeit trachten. Mittelmäßigkeit ist nicht dein Beruf!“ Dieses Wort scheint eine Haltung auszudrücken. Vielleicht war es sogar so etwas wie ein Lebensmotto. Das würde jedenfalls erklären, warum sich der junge und angesehene Weltgeistliche auf den Weg in den franziskanischen Reformorden der Kapuziner macht. Die Kapuziner bemühten sich zu dieser Zeit immer noch sehr stark um die Abgrenzung von den Franziskanern durch eine strengere Regelauslegung und rauere Gebräuche im Ordensalltag. Mittelmäßigkeit war in ihrem Denken eine Verfallserscheinung und der Beginn der Verweichlichung des Ordensstandes.
Auch heute noch klingt „Mittelmäßigkeit“ in den Ohren der meisten Menschen eher unattraktiv. Wer will schon mittelmäßig sein? Wer mittelmäßig daher kommt, der bleibt unsichtbar, wird nicht wahrgenommen, geht unter in der Masse. Mittelmäßigkeit und Erfolg scheinen sich auszuschließen.
Anders ausgedrückt: Wer erfolgreich sein will, der muss sichtbar werden und Aufmerksamkeit erregen. Der muss von sich reden machen mit allen Konsequenzen. Und er muss letztlich besser sein als seine Mitbewerber.
Mitte, Maß und Mittelmaß
„Ich habe meine Mitte verloren“ sagen Menschen manchmal, wenn sie spüren, dass sie innerlich aus dem Gleichgewicht geraten sind. Gründe dafür gibt es viele. Oft spielt dabei der hohe Erfolgsdruck in Schule, Beruf, Partnerschaft und Familie eine Rolle.
Dagegen tut es Menschen gut, wenn sie in einer Lebensphase von sich selbst sagen können: „Ich habe meine Mitte gefunden. Ich bin bei mir angekommen. Ich bin zufrieden.“ Der Mensch hat eine Sehnsucht nach „seiner Mitte“, also nach dem Zustand, den man als innere Balance und als seelisches Gleichgewicht bezeichnen kann.
Bleibt die Frage, wie der Mensch dahin gelangt? Eine Frage, die die Menschheit schon lange beschäftigt. Als Begriff taucht „die Mitte“ schon in der antiken Philosophie auf. Für Aristoteles bezeichnet sie die Stellung einer Tugend zwischen zwei einander entgegengesetzten Lastern, dem „Übermaß“ und dem „Mangel“.
Man muss nur für einige Minuten durch die Esoterikabteilung einer beliebigen Buchhandlung schlendern, um festzustellen, wie viele „Heilsangebote“ es auf dem Markt gibt, die auf diese Frage nach dem Weg zur inneren Balance eine Antwort geben wollen. Wie finde ich meine Mitte? Wann komme ich bei mir an? Was kann ich tun oder lassen für das innere Glück?
Fragen offen lassen
Gesunde Traditionen und Spiritualitäten zeichnen sich dadurch aus, dass sie diese Fragen erst einmal offen lassen. Eine Antwort darauf kann nicht gegeben, sondern höchstens vom Suchenden selbst erfahren und gefunden werden. Viktrizius Weiß hat seinen Weg im Bemühen um Heiligkeit als bayerischer Kapuziner gefunden. Peter Middleton hat im Berufsalltag von Oslo eine „Erfahrung der Mitte“ gemacht. Beide waren auf ihre Art wohl so etwas wie Mystiker.
Nur wenn wir uns mit der offenen Frage nach dem Sinn und der Mitte des Lebens auf den Weg machen, können wir etwas Neues entdecken. Vielleicht sogar eine Antwort auf unsere Lebensfrage. Und wenn dann jemand einwendet „es ist ein Kloster“ oder „es ist der Supermarkt“, dann werden wir vielleicht sagen: „Nein, mein Freund, das ist die Mitte.“