
FOTO: KAPUZINER/RAUSER
Sonnengesang: Ein prophetisches Lied auf das Leben
Vor 800 Jahren dichtete Franz von Assisi ein einzigartiges Lob auf die Schöpfung: den Sonnengesang. Was kann uns diese poetische Komposition aus dem Mittelalter heute noch sagen?
Der Umgang mit unserer Mitwelt steht in Europa weit oben auf dem Sorgenbarometer vieler Menschen. Klimakatastrophen, die sich in Nord und Süd dramatisch mehren, verschärfen die Sorge über die ökologische Schieflage der Welt. Papst Franziskus rief immer wieder die ganze Menschheit auf, „singend und kämpfend“ für die Zukunft unseres Planeten einzustehen. Seine Enzyklika „Laudato si’“ griff dazu auf das Schöpfungslied zurück, das Franz von Assisi vor genau 800 Jahren dichtete. Wie kann eine Komposition des Mittelalters in die Nöte der Gegenwart sprechen? Und was macht das poetische Werk zeitlos ermutigend?
Das „Cantico di frate Sole“ heißt im ältesten Manuskript „Lobgesang der Geschöpfe“. Das Lied, das den Schöpfer für und durch alle Geschöpfe preist, ist ein Alterswerk des Mystikers. Zwei Jahrzehnte war er durch Italien gewandert und hatte sich öfter in Eremitagen an Berghängen zurückgezogen. Diese Orte verbinden bis heute tiefe Stille mit der Schönheit unberührter Wälder und weite Ausblicke in die Welt mit mystischer Tiefe.
Das naturverbundene Leben führte zu einer tiefen Vertrautheit mit der Schöpfung, mit den Rhythmen von Sonne und Mond, Wind und Wetter, erfrischenden Quellen und wärmendem Feuer sowie der nährenden Erde. Frucht davon ist eine Naturmystik, die Thomas von Celano in dichten Zeilen beschreibt: „Dieser glückliche Wanderer hatte seine Freude an den Dingen, die in der Welt sind (…). Er sah die Welt als klaren Spiegel von Gottes Güte. In jedem Kunstwerk lobte er den Künstler. Was er in der geschaffenen Welt fand, führte er zurück auf den Schöpfer. Er pries in allen Werken die Hände des Herrn, und durch das, was sich seinem Auge an Lieblichem bot, schaute er hindurch auf den Urgrund und die Lebensquelle aller Dinge. Er erkannte im Schönen den Schönsten selbst. Alles Gute rief ihm zu: ‚Der uns erschaffen hat, ist der Beste.‘ Auf den Spuren, die den Dingen eingeprägt sind, folgte er überall dem Geliebten nach.“
Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen,
besonders dem Herrn Bruder Sonne, der uns den Tag schenkt und durch den du uns leuchtest.
Und schön ist er und strahlend
in großem Glanz: von dir, Höchster, ein Sinnbild.
Der Sonnengesang entstand in San Damiano vor Assisis Stadtmauern, wo Klaras Gemeinschaft mit einer Gruppe Brüder das Gotteslob sang. Das harmonische Zusammenklingen von Schwestern und Brüdern hört Franz auch in der ganzen Schöpfung. „Frate sole“ (Bruder Sonne) spielt mit den Schwestern „luna e stelle“ zusammen, mit Mond und Sternen, die italienisch weiblich sind. Bruder Wind verbindet sich mit Schwester Wasser, Bruder Feuer mit Schwester Mutter Erde. Die Gestirne im weiten Kosmos ermöglichen Leben auf Erden durch den Wechsel von Tag und Nacht und den Lauf des Jahres mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Im Lied von dreierlei Art, verweisen Sonne, Mond und Sterne zugleich auf die Überwelt des dreieinen Gottes: lichtvoll, unendlich und ewig! Aus den vier Urelementen sieht das Mittelalter alle irdischen Lebewesen bestehen: Pflanzen, Tiere und Menschen werden von der Erde ernährt, brauchen Wasser und atmen, sie speichern Energie und haben ihre je eigene Temperatur.
Alles Geschaffene auf Erden teilt denselben Lebensraum, und jedes Geschöpf erzählt auf seine Weise vom Schöpfer. Die Strophe auf den Menschen kam Wochen später hinzu, als in Assisi ein Bürgerkrieg drohte. Nicht Aggressive oder Unversöhnliche verweisen auf Gott, ihren Schöpfer, sondern Friedfertige und Liebende. So schön Gottes Liebe auch in Verliebten aufleuchtet, am eindrücklichsten tut sie es da, wo menschliche Liebe geprüft wird. Wo Menschen einander verzeihen, in Krankheiten den inneren Frieden nicht verlieren und mit allerlei Sorgen gut umgehen, tun sie es „per lo tuo amore“ – in der Kraft von Gottes Liebe.
Gelobt seist du, mein Herr,
für unsere Schwester Mutter Erde,
die uns erhält und lenkt und
vielfältige Früchte hervorbringt,
mit bunten Blumen und Kräutern.
Vor seinem Sterben fügte Franziskus die letzte Strophe hinzu: So sehr das Leben auf Erden ein Geschenk ist, es bleibt vergänglich. Die Zeilen zur Schwester Tod sehen das Sterben nicht als Katastrophe, sondern als Übergang in die ewige Schöpfung Gottes. Den „leiblichen Tod“ wird Franz sterbend tatsächlich als Weggefährtin willkommen heißen. Von ihr lässt er sich an die Hand nehmen, wo seine Liebsten, die Brüder, Schwestern und Freundin Jacoba, ihn loslassen müssen. Franziskus vertraut sterbend darauf, dass „sora morte“ jeden Menschen „durch die Pforte des Lebens“ begleitet und in Gottes Lichtfülle führt.
In der Endgestalt zählt das Schöpfungslied 33 Verse: Das Mittelalter zählt 33 Lebensjahre Jesu auf Erden. Franz lässt damit feinsinnig anklingen, dass diese unsere Welt nicht nur Werk Gottes, sondern auch Heimat des Gottessohnes geworden ist. Selbst unreligiöse Menschen leben daher nicht in einer gottlosen, sondern einer von Gott geliebten Welt!
Mit Blick in die ökologische Schieflage der Welt heute sind vom Sonnengesang keine Rezepte zu erwarten. Die Botschaft dieser Perle der Weltliteratur ist grundlegender: Finde zurück zu einer neuen Wachheit für alles Leben, lerne neu staunen über das Schöne und Kostbare in der Schöpfung, lass dein Herz berühren! Denn wir tragen all dem Sorge, was wir lieben!
Papst Franziskus kam im ersten und im letzten Kapitel der Enzyklika eingehend auf sein Vorbild zu sprechen. Der Mystiker und Menschenfreund aus Assisi weise den Weg zu einer neuen Beziehungskultur, die mit jedem Menschen und allen Geschöpfen ebenso wie mit Gott und sich selbst verbindet: „Franziskus von Assisi war ein Mystiker und ein Pilger, der in Einfachheit und in einer wunderbaren Harmonie mit Gott, mit den anderen Menschen, mit der Natur und mit sich selbst lebte“. Sein Leben mache deutlich, wie sehr „die Sorge um die Natur, die Gerechtigkeit gegenüber den Armen, das Engagement für die Gesellschaft und der innere Friede untrennbar miteinander verbunden sind“. Eine erste Ermutigung aus der Lebenskunst des Poverello liegt tatsächlich in der ganzheitlichen Verbindung von Menschen- und Naturliebe mit Selbstsorge und Gottesfreundschaft. Alle vier Dimensionen des Lebens klingen im Sonnengesang an. Im Kapitel über Ökospiritualität spricht Papst Franziskus eine zweite Kunst an: tiefe Lebensfreude aus Beziehungen zu schöpfen! Franziskus ermutigt zu einem „kontemplativen Lebensstil“, der „sich zutiefst freuen kann, ohne auf Konsum versessen zu sein“. Glücklich, wer zurückfindet zu einer „Einfachheit, die uns erlaubt innezuhalten, um das Kleine zu würdigen, dankbar zu sein für die Möglichkeiten, die das Leben bietet, ohne uns an das zu hängen, was wir haben“.
Gelobt seist du, mein Herr, für jene,
die verzeihen um deiner Liebe willen und Krankheit ertragen und Not.
Selig, die ausharren in Frieden,
denn du, Höchster, wirst sie einst krönen.
Denn diese Art der „Genügsamkeit“ wirkt „befreiend“: „Sie bedeutet nicht weniger Leben, sie bedeutet nicht geringere Intensität, sondern ganz das Gegenteil. In Wirklichkeit kosten diejenigen jeden einzelnen Moment mehr aus und erleben ihn besser, die aufhören, auf der ständigen Suche nach dem, was sie nicht haben, hier und da und dort etwas aufzupicken: Sie sind es, die erfahren, was es bedeutet, jeden Menschen und jedes Wesen zu würdigen, und die lernen, mit den einfachsten Dingen in Berührung zu kommen und sich an ihnen zu freuen“. Wahres Glück erfordere, „dass wir verstehen, einige Bedürfnisse, die uns betäuben, einzuschränken, und so ansprechbar zu bleiben für die vielen Möglichkeiten, die das Leben bietet“.
Franz von Assisi unterstreicht mit seinem Schöpfungslied, was Papst Franziskus über eine wache Ökospiritualität schreibt: „Die Natur ist voll von Worten der Liebe. Doch wie können wir sie hören mitten im ständigen Lärm, in der fortdauernden und begierigen Zerstreuung oder im Kult der Selbstdarstellung?“. Franziskus steht mit seiner Mystik und seinem Leben für „universale Geschwisterlichkeit“, aus der kein Mensch und kein Geschöpf herausfällt.
Text: Br. Niklaus Kuster
Der Beitrag ist auch in cap!, dem Magazin der Kapuziner erschienen. Einige Zitate und Einordnungen sind den Franziskus-Quellen (2010, Verlag Butzon & Bercker) sowie der Enzyklika «Laudato Si» (2015) von Papst Franziskus entnommen.
