
FOTO: KAPUZINER/ANITA LEDERSBERGER
BR. CHRISTOPHORUS GOEDEREIS
wurde 1965 in Nordhorn geboren. Seit 1984 ist er Kapuziner und lebt zurzeit im Kapuzinerkloster im niederländischen Velp.
Sonnengesang: „Sich demütig als Teil der Schöpfung Gottes verstehen“
Vor 800 Jahren schrieb der Heilige Franziskus den berühmten Sonnengesang. Warum das Gebet heute aktuell ist wie nie und wie es uns konkret zum Handeln auffordert, verrät Br. Christophorus Goedereis.
Bruder Christophorus, in welcher Situation und in welche Zeit hinein hat Franz von Assisi den Sonnengesang geschrieben?
Br. Christophorus: Der Text wurde vor 800 Jahren verfasst, wahrscheinlich im Frühjahr 1225. Es handelt sich um ein Lob Gottes durch die Schöpfung. Man könnte meinen, der Sonnengesang sei an einem sonnigen Sonntagnachmittag entstanden, die Vögel zwitschern, die Bienen summen, Franziskus sitzt in einem blühenden Mohnfeld und gerät darüber ins Schwärmen. Das krasse Gegenteil ist der Fall: Franziskus liegt schwer krank in einem kleinen Gärtchen des Klosters San Damiano in Assisi, Schwestern pflegen ihn. Er ist ausgemergelt, geschwächt, nahezu blind – und ahnt mit seinen rund 40 Jahren vielleicht schon, dass sein Leben sich dem Ende zuneigt. Seinen Körper nennt er „Bruder Esel“. In dieser Situation, mitten im Leid, bricht dieses Loblied aus ihm heraus.
Nicht der Mensch ist im Zentrum, sondern Gott, der alle Geschöpfe erschaffen und miteinander verbunden hat.
Was ist die zentrale Aussage des Sonnengesangs, seine Quintessenz?
Der Sonnengesang ist viel mehr als das nette Liedchen, als das er gern wahrgenommen wird. Es ist ein tiefes Gebet – gerichtet an den höchsten, allmächtigen, guten Herrn. Was den Sonnengesang ausmacht, ist die tiefe Verbundenheit der Geschöpfe, die darin zum Ausdruck kommt. Alle sind miteinander verbunden und aufeinander angewiesen, alle sind letztlich Brüder und Schwestern. Das gilt für die Ameise und den Elefanten – und für alle Menschen, egal welcher Kultur, Hautfarbe oder Nation. Für den heiligen Franziskus ist der Grund dieser Verbundenheit derselbe Ursprung, den alle Geschöpfe haben: nämlich Gott, der Schöpfer.
Das Gebet hat einige Parallelen zum Gesang der drei Jünglinge im Feuerofen aus dem Buch Daniel im Alten Testament. Hat Franziskus den Text nur abgekupfert?
In der Forschung zum Sonnengesang herrscht Einigkeit, dass Franziskus von älteren Texten inspiriert war. Er kannte mit Sicherheit die Psalmen 19, 104 oder 148, die alle die Schöpfung loben. Und ja, auch der Lobgesang der drei Jünglinge im Feuerofen war ihm sicher vertraut – noch heute ist das ja ein ganz bekanntes Gebet, das wir Ordensleute jeden Sonntagmorgen in der Laudes beten. Einzigartig ist jedoch, was Franziskus aus diesen Vorlagen macht: Es gibt keinen Text mit einer vergleichbaren Wirkungsgeschichte. Faszinierend sind für mich auch die sprachlichen Details: Der Sonnengesang hat 33 Verse – Jesus wurde 33 Jahre alt. Im altitalienischen Original lauten die ersten Worte „Altissimu, omnipotente, bon Signore“ – „Höchster, allmächtiger, guter Herr“. Darin verbirgt sich das Alpha und Omega, das Christusmonogramm. Solche Entdeckungen finde ich umso faszinierender, als ich mir sicher bin, dass Franziskus den Aufbau des Textes nicht lange und aufwendig konzipiert hat. Da steckt ganz viel Intuition, vielleicht sogar etwas Mystisches drin.
Alle sind miteinander verbunden und aufeinander angewiesen, alle sind letztlich Brüder und Schwestern.
Hat das Gebet auch andere Theologen, Literaten und Künstler zu neuen Werken inspiriert?
Ja, in vielen verschiedenen Disziplinen. Da ist zum einen der große Franziskaner-Theologe Bonaventura. Er lebte im 13. Jahrhundert und soll als Kind dem heiligen Franziskus noch persönlich begegnet sein. Auch für Bonaventura begegnen wir dem Schöpfer durch die Geschöpfe. Die Erstoffenbarung, so sagt er, ist nicht die Heilige Schrift, nicht die Menschwerdung Gottes, sondern die Schöpfung. Das ist seit jeher franziskanische Theologie. Über die Jahrhunderte waren Franziskus und der Sonnengesang dann immer wieder Inspiration in Kunst- und Musikgeschichte. Besonders die berühmte Vogelpredigt von Franziskus‘ wurde oft dargestellt. Zum 800. Geburtstag schaffte sie es sogar auf eine Briefmarke der deutschen Post. Das Gotteslob enthält mehrere Vertonungen des Sonnengesangs. Ein sehr bekanntes Lied ist auch das Laudato Si von Winfried Pilz. Wegen der Missbrauchsvorwürfe gegen seinen Komponisten wird es aktuell aber zurecht nicht mehr rezipiert.
Was macht für Sie persönlich der Sonnengesang aus?
Ich möchte nur ungern „die eine“ Botschaft herausgreifen, weil im Sonnengesang so viel steckt. Aber in der Gegenwart drängt sich doch eine Botschaft auf: Der Mensch sollte dringend von seiner Arroganz abrücken, sich als Krone der Schöpfung zu sehen. Unser Zeitalter wird in der Wissenschaft „Anthropozän“ genannt: der Mensch verändert die Welt und Umwelt nachhaltig durch seine Handlungen – aber leider nicht zum Positiven, er zerstört sie. Alles scheint sich um uns zu drehen: Wem gehören das Wasser und die Meere, wem das Fleisch der Tiere? Wem gehört der Berg, wer hat die Lufthoheit? Alles wird als etwas betrachtet, das zu unserer Verfügung ist. Aber wir merken zunehmend: Diese Rechnung geht nicht auf. Wir haben überzogen, wir zerstören unseren Planeten. Der Sonnengesang lädt mich ein, mich selbst demütig wieder als Teil der Schöpfung zu verstehen. Nicht der Mensch ist im Zentrum, sondern Gott, der alle Geschöpfe erschaffen und miteinander verbunden hat. Daraus entsteht für uns eine Verantwortung, die wir dringend wahrnehmen sollten.
Die Erstoffenbarung, so sagt Bonaventura, ist nicht die Heilige Schrift, nicht die Menschwerdung Gottes, sondern die Schöpfung.
Was heißt das konkret: Sollten wir alle vegan leben und Fridays for Future unterstützen?
Der Sonnengesang ruft sicher nicht zu einer bestimmten politischen Aktion auf, aber er ist für mich schon ganz klar ein Auftrag zum Nach- und Umdenken. Und wer das angesichts der von uns Menschen selbst verschuldeten Probleme mit unserer Schöpfung ernsthaft tut, der kommt nicht daran vorbei, Konsequenzen zu ziehen. Ob das dann Veganismus oder Vegetarismus, ein bewussteres Einkaufen im Bioladen, Konsumverzicht oder auch die Unterstützung von Fridays for Future ist – da gibt es mehr als nur eine Option.