
FOTO: LUIGI CAPUTO
„Zusammenhalt war niemals ein Selbstläufer“
Eine Gesellschaft ohne Zusammenhalt zerfällt. Was Menschen zusammenbringt und welche Herausforderungen anstehen, sagt der Theologie-Professor Martin Dürnberger im Interview auf kapuziner.org.
Wie wichtig ist der Zusammenhalt für die Gesellschaft?
Professor Martin Dürnberger: Gesellschaften sind kooperative Größen. Um nicht zu zerfallen, benötigen sie ein gewisses Maß an Zusammenhalt. Damit ist nicht gemeint, dass sie in allem identische Werte und Ideale auszeichnen müssen, aber es braucht gewisse Formen von Identifikation und Partizipation. Blickt man in psychologische Literatur, welche Dinge Zusammenhalt, Vertrauen und Kooperation fördern, wird zum Beispiel oft auf die Bedeutung von synchronen Aktivitäten hingewiesen: zur gleichen Zeit gemeinsam etwas zu erleben oder zu unternehmen. Das scheint einleuchtend: Bereits kleinere Gemeinschaften leben wesentlich von gemeinsamen Rhythmen. Das ist durchaus theologisch anschlussfähig: Auch religiöse Gemeinschaften sind wesentlich von gemeinsamen Rhythmen und Ritualen, also synchronen Aktivitäten, geprägt und getragen, auch wenn dabei natürlich noch andere Dimensionen hinzukommen.
Wie wichtig ist die Empathie?
Die Fähigkeit, den eigenen Standpunkt nicht absolut zu setzen, sondern sich in andere hineinversetzen zu können, scheint mir essenziell. Das umfasst nicht zuletzt die Fähigkeit, Kompromisse eingehen zu können.
Kompromisse eingehen und gleichzeitig authentisch bleiben, geht das?
Ich würde es so formulieren: Man macht mitunter in Institutionen die Erfahrung, wie wichtig Menschen sind, die sich kümmern. Also Menschen, die sich mit einer Einrichtung identifizieren, die verlässlich, verbindlich und redlich sind und Verantwortung übernehmen. Diese Menschen halten oft eine Einrichtung zusammen, ohne in einer Führungsposition zu sein oder aber die Fehler und Mängel einer Einrichtung unaufrichtig kleinzureden. Also ein Portier, ein Sekretär, eine Archivarin. Gemeinschaften leben nicht zuletzt von solchen Kümmerern. Auch das ist Authentizität.
Unsere Gesellschaften werden diverser, auf der anderen Seite sehen wir den Trend zu Leitwerten, Leitbildern, Nationalismus: Wie kann man das auflösen?
Die beiden Entwicklungen sind vielleicht kommunizierende Gefäße: Je pluralistischer eine Gesellschaft, desto mehr stellt sich die Frage, was sie inhaltlich noch zusammenhält. Eine klassisch moderne Antwort auf dieses Problem ist der Rekurs auf eine gemeinsame demokratische Kultur: Selbst wenn wir verschieden sind, partizipieren wir am gleichen formalen Verfahren, um Gesellschaft zu gestalten. Der demokratische Streit darüber, wie das am besten geht, erzeugt gleichsam wieder Gemeinsamkeit. Es ist eine empirisch offene Frage, ob dies angesichts aktueller Herausforderungen ein hinreichend starkes Band darstellt. Aber was wäre die Alternative?
Was ist das „Gemeinsame“, das Menschen zusammenhält?
Folgt man Einsichten aus der evolutionären Anthropologie, dann ist der Mensch von Grund auf ein kooperatives Wesen. Experimente zeigen, dass Kleinkinder helfen wollen, selbst Fremden. Ab einem gewissen Alter und nach entsprechenden Erfahrungen, in denen Hilfe ausgenutzt, aber nicht erwidert wird, wird diese Bereitschaft zurückhaltender. Menschen sind keineswegs von Natur aus bloß auf den eigenen Vorteil aus, sondern im Grunde äußerst kooperative Wesen. Und wenn die Rahmenbedingungen passen, realisieren wir diese Kooperationsbereitschaft auch über kulturelle, religiöse oder politische Grenzen hinweg.
Welche Rolle kann die Religion, die Kirche oder ein Orden in diesem Prozess spielen?
Kirchen allgemein sind nach wie vor Einrichtungen, die Kooperation, Vertrauen und Zusammenhalt kultivieren – und zwar über die eigene Gemeinschaft hinaus. Es gibt also Argumente dafür, gerade kirchlich gebundene Religiosität als einen Faktor zu verstehen, der Vertrauenswürdigkeit in Netzen von sozialen Trans- und Interaktionen zu erhöhen vermag. Zugleich muss man aber auch sehen: Die Kirchen haben im Lauf der Geschichte immer wieder Vertrauen missbraucht oder Misstrauen gegen andere angestachelt. Deshalb gilt vielleicht beides: Kirchen können immer noch einen zivilgesellschaftlichen Beitrag zum Zusammenhalt von Gesellschaften leisten, auch wenn sie ihre eigene Ambivalenz nicht ausblenden dürfen und ihr eigenes Schrumpfen natürlich eine Realität darstellt.
Sind Sie optimistisch oder pessimistisch, was die Entwicklung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes angeht?
Ich sehe tatsächlich große Herausforderungen für unsere Gesellschaften zukommen, wenn das Fortschritts- und Wachstumsversprechen nachlässt, das sie bislang oft zusammengehalten hat. Ich meine das Versprechen, dass es für uns alle oder die eigenen Kinder besser wird. Angesichts dieses Versprechens war man oft kompromissbereit und etwas konzilianter, denn insgesamt fuhr der gesellschaftliche Lift – und man selbst mit ihm – ja ‚nach oben‘. Dieses Versprechen ist brüchig geworden. Deshalb wird man nervöser: Muss man nicht die Ellbogen einsetzen, um seinen Platz zu sichern? Zugleich finden sich aber immer wieder neue Formen von Kooperation, Zusammenhalt und Solidarität, die man auch nicht kleinreden kann: Es ist ja auch wahr, dass Menschen sich weiterhin ehrenamtlich engagieren – und zwar in ganz erstaunlichem Ausmaß, etwa aktuell bei den Flutkatastrophen; der Mensch ist in der Tat ein kooperatives Wesen, wie ich oben ausgeführt habe. Welche der beiden Dynamiken wird beherrschend? Sollte man pessimistisch oder darf man optimistisch sein? Da Prognosen bekanntlich ohnehin schwierig sind, sofern sie die Zukunft betreffen, halte ich mich an Don Bosco: Fröhlich sein, Gutes tun und die Spatzen pfeifen lassen.
Gibt die Bibel hier Hinweise, wie man ein gutes Zusammenleben erreichen kann?
Was mich die Bibel in Sachen Zusammenhalt lehrt, ist zum Beispiel Nüchternheit: Liest man die Paulus-Briefe oder darüber, wie viele Konflikte es bereits von Beginn an gab, wird man immer wieder daran erinnert, dass man nicht in falscher Nostalgie schwelgen sollte. Zusammenhalt war niemals ein Selbstläufer, sie war immer gefährdet. Und doch gibt es bis heute Menschen, die gemeinsam versuchen, Jesus von Nazaret nachzufolgen. Und das ist doch mehr als erstaunlich!
Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person: Martin Dürnberger (Jahrgang 1980) ist Universitäts-Professor für theologische Grund- und Gegenwartsfragen an der Paris-Lodron-Universität in Salzburg. Er leitet auch die Salzburger Hochschulwochen. Mehr zu Martin Dürnberger finden Sie hier.
Das Interview führte Tobias Rauser. Mehr zum Thema „Zusammenhalt“ lesen in der Winterausgabe von cap!, dem Magazin der Kapuziner. Das Magazin erscheint Anfang Dezember und ist auf kapuziner.org als E‑Paper verfügbar.