Interview

FOTO: LUI­GI CAPUTO

27. Novem­ber 2024

„Zusammenhalt war niemals ein Selbstläufer“

Eine Gesell­schaft ohne Zusam­men­halt zer­fällt. Was Men­schen zusam­men­bringt und wel­che Her­aus­for­de­run­gen anste­hen, sagt der Theo­lo­gie-Pro­fes­sor Mar­tin Dürn­ber­ger im Inter­view auf kapuziner.org. 

Wie wich­tig ist der Zusam­men­halt für die Gesellschaft?
Pro­fes­sor Mar­tin Dürn­ber­ger: Gesell­schaf­ten sind koope­ra­ti­ve Grö­ßen. Um nicht zu zer­fal­len, benö­ti­gen sie ein gewis­ses Maß an Zusam­men­halt. Damit ist nicht gemeint, dass sie in allem iden­ti­sche Wer­te und Idea­le aus­zeich­nen müs­sen, aber es braucht gewis­se For­men von Iden­ti­fi­ka­ti­on und Par­ti­zi­pa­ti­on. Blickt man in psy­cho­lo­gi­sche Lite­ra­tur, wel­che Din­ge Zusam­men­halt, Ver­trau­en und Koope­ra­ti­on för­dern, wird zum Bei­spiel oft auf die Bedeu­tung von syn­chro­nen Akti­vi­tä­ten hin­ge­wie­sen: zur glei­chen Zeit gemein­sam etwas zu erle­ben oder zu unter­neh­men. Das scheint ein­leuch­tend: Bereits klei­ne­re Gemein­schaf­ten leben wesent­lich von gemein­sa­men Rhyth­men. Das ist durch­aus theo­lo­gisch anschluss­fä­hig: Auch reli­giö­se Gemein­schaf­ten sind wesent­lich von gemein­sa­men Rhyth­men und Ritua­len, also syn­chro­nen Akti­vi­tä­ten, geprägt und getra­gen, auch wenn dabei natür­lich noch ande­re Dimen­sio­nen hinzukommen.

Wie wich­tig ist die Empathie?
Die Fähig­keit, den eige­nen Stand­punkt nicht abso­lut zu set­zen, son­dern sich in ande­re hin­ein­ver­set­zen zu kön­nen, scheint mir essen­zi­ell. Das umfasst nicht zuletzt die Fähig­keit, Kom­pro­mis­se ein­ge­hen zu können.

Kom­pro­mis­se ein­ge­hen und gleich­zei­tig authen­tisch blei­ben, geht das?
Ich wür­de es so for­mu­lie­ren: Man macht mit­un­ter in Insti­tu­tio­nen die Erfah­rung, wie wich­tig Men­schen sind, die sich küm­mern. Also Men­schen, die sich mit einer Ein­rich­tung iden­ti­fi­zie­ren, die ver­läss­lich, ver­bind­lich und red­lich sind und Ver­ant­wor­tung über­neh­men. Die­se Men­schen hal­ten oft eine Ein­rich­tung zusam­men, ohne in einer Füh­rungs­po­si­ti­on zu sein oder aber die Feh­ler und Män­gel einer Ein­rich­tung unauf­rich­tig klein­zu­re­den. Also ein Por­tier, ein Sekre­tär, eine Archi­va­rin. Gemein­schaf­ten leben nicht zuletzt von sol­chen Küm­me­rern. Auch das ist Authentizität.

Unse­re Gesell­schaf­ten wer­den diver­ser, auf der ande­ren Sei­te sehen wir den Trend zu Leit­wer­ten, Leit­bil­dern, Natio­na­lis­mus: Wie kann man das auflösen?
Die bei­den Ent­wick­lun­gen sind viel­leicht kom­mu­ni­zie­ren­de Gefä­ße: Je plu­ra­lis­ti­scher eine Gesell­schaft, des­to mehr stellt sich die Fra­ge, was sie inhalt­lich noch zusam­men­hält. Eine klas­sisch moder­ne Ant­wort auf die­ses Pro­blem ist der Rekurs auf eine gemein­sa­me demo­kra­ti­sche Kul­tur: Selbst wenn wir ver­schie­den sind, par­ti­zi­pie­ren wir am glei­chen for­ma­len Ver­fah­ren, um Gesell­schaft zu gestal­ten. Der demo­kra­ti­sche Streit dar­über, wie das am bes­ten geht, erzeugt gleich­sam wie­der Gemein­sam­keit. Es ist eine empi­risch offe­ne Fra­ge, ob dies ange­sichts aktu­el­ler Her­aus­for­de­run­gen ein hin­rei­chend star­kes Band dar­stellt. Aber was wäre die Alternative?

Was ist das „Gemein­sa­me“, das Men­schen zusammenhält?
Folgt man Ein­sich­ten aus der evo­lu­tio­nä­ren Anthro­po­lo­gie, dann ist der Mensch von Grund auf ein koope­ra­ti­ves Wesen. Expe­ri­men­te zei­gen, dass Klein­kin­der hel­fen wol­len, selbst Frem­den. Ab einem gewis­sen Alter und nach ent­spre­chen­den Erfah­run­gen, in denen Hil­fe aus­ge­nutzt, aber nicht erwi­dert wird, wird die­se Bereit­schaft zurück­hal­ten­der. Men­schen sind kei­nes­wegs von Natur aus bloß auf den eige­nen Vor­teil aus, son­dern im Grun­de äußerst koope­ra­ti­ve Wesen. Und wenn die Rah­men­be­din­gun­gen pas­sen, rea­li­sie­ren wir die­se Koope­ra­ti­ons­be­reit­schaft auch über kul­tu­rel­le, reli­giö­se oder poli­ti­sche Gren­zen hinweg.

Wel­che Rol­le kann die Reli­gi­on, die Kir­che oder ein Orden in die­sem Pro­zess spielen?
Kir­chen all­ge­mein sind nach wie vor Ein­rich­tun­gen, die Koope­ra­ti­on, Ver­trau­en und Zusam­men­halt kul­ti­vie­ren – und zwar über die eige­ne Gemein­schaft hin­aus. Es gibt also Argu­men­te dafür, gera­de kirch­lich gebun­de­ne Reli­gio­si­tät als einen Fak­tor zu ver­ste­hen, der Ver­trau­ens­wür­dig­keit in Net­zen von sozia­len Trans- und Inter­ak­tio­nen zu erhö­hen ver­mag. Zugleich muss man aber auch sehen: Die Kir­chen haben im Lauf der Geschich­te immer wie­der Ver­trau­en miss­braucht oder Miss­trau­en gegen ande­re ange­sta­chelt. Des­halb gilt viel­leicht bei­des: Kir­chen kön­nen immer noch einen zivil­ge­sell­schaft­li­chen Bei­trag zum Zusam­men­halt von Gesell­schaf­ten leis­ten, auch wenn sie ihre eige­ne Ambi­va­lenz nicht aus­blen­den dür­fen und ihr eige­nes Schrump­fen natür­lich eine Rea­li­tät darstellt.

Sind Sie opti­mis­tisch oder pes­si­mis­tisch, was die Ent­wick­lung des gesell­schaft­li­chen Zusam­men­hal­tes angeht?
Ich sehe tat­säch­lich gro­ße Her­aus­for­de­run­gen für unse­re Gesell­schaf­ten zukom­men, wenn das Fort­schritts- und Wachs­tums­ver­spre­chen nach­lässt, das sie bis­lang oft zusam­men­ge­hal­ten hat. Ich mei­ne das Ver­spre­chen, dass es für uns alle oder die eige­nen Kin­der bes­ser wird. Ange­sichts die­ses Ver­spre­chens war man oft kom­pro­miss­be­reit und etwas kon­zi­li­an­ter, denn ins­ge­samt fuhr der gesell­schaft­li­che Lift – und man selbst mit ihm – ja ‚nach oben‘. Die­ses Ver­spre­chen ist brü­chig gewor­den. Des­halb wird man ner­vö­ser: Muss man nicht die Ell­bo­gen ein­set­zen, um sei­nen Platz zu sichern? Zugleich fin­den sich aber immer wie­der neue For­men von Koope­ra­ti­on, Zusam­men­halt und Soli­da­ri­tät, die man auch nicht klein­re­den kann: Es ist ja auch wahr, dass Men­schen sich wei­ter­hin ehren­amt­lich enga­gie­ren – und zwar in ganz erstaun­li­chem Aus­maß, etwa aktu­ell bei den Flut­ka­ta­stro­phen; der Mensch ist in der Tat ein koope­ra­ti­ves Wesen, wie ich oben aus­ge­führt habe. Wel­che der bei­den Dyna­mi­ken wird beherr­schend? Soll­te man pes­si­mis­tisch oder darf man opti­mis­tisch sein? Da Pro­gno­sen bekannt­lich ohne­hin schwie­rig sind, sofern sie die Zukunft betref­fen, hal­te ich mich an Don Bosco: Fröh­lich sein, Gutes tun und die Spat­zen pfei­fen las­sen. 

Gibt die Bibel hier Hin­wei­se, wie man ein gutes Zusam­men­le­ben errei­chen kann?
Was mich die Bibel in Sachen Zusam­men­halt lehrt, ist zum Bei­spiel Nüch­tern­heit: Liest man die Pau­lus-Brie­fe oder dar­über, wie vie­le Kon­flik­te es bereits von Beginn an gab, wird man immer wie­der dar­an erin­nert, dass man nicht in fal­scher Nost­al­gie schwel­gen soll­te. Zusam­men­halt war nie­mals ein Selbst­läu­fer, sie war immer gefähr­det. Und doch gibt es bis heu­te Men­schen, die gemein­sam ver­su­chen, Jesus von Naza­ret nach­zu­fol­gen. Und das ist doch mehr als erstaunlich!

Vie­len Dank für das Gespräch!

 

Zur Per­son: Mar­tin Dürn­ber­ger (Jahr­gang 1980) ist Uni­ver­si­täts-Pro­fes­sor für theo­lo­gi­sche Grund- und Gegen­warts­fra­gen an der Paris-Lodron-Uni­ver­si­tät in Salz­burg. Er lei­tet auch die Salz­bur­ger Hoch­schul­wo­chen. Mehr zu Mar­tin Dürn­ber­ger fin­den Sie hier

Das Inter­view führ­te Tobi­as Rau­ser. Mehr zum The­ma „Zusam­men­halt“ lesen in der Win­ter­aus­ga­be von cap!, dem Maga­zin der Kapu­zi­ner. Das Maga­zin erscheint Anfang Dezem­ber und ist auf kapuziner.org als E‑Paper verfügbar. 

Pressekontakt

Bei Fra­gen zu die­ser Mel­dung oder zur Auf­nah­me in den Pres­se­ver­tei­ler mel­den Sie sich per Mail oder Tele­fon bei Tobi­as Rau­ser, Lei­ter Pres­­se- und Öffent­lich­keits­ar­beit: Tele­fon: +49 (0)160–99605655 oder

KAPNEWS

Der News­let­ter der Kapuziner
Wol­len Sie über die Kapu­zi­ner und ihr Enga­ge­ment  infor­miert blei­ben? Dann mel­den Sie sich kos­ten­los für unse­re monat­li­chen „KAPNEWSan.
www.kapuziner.org/newsletter

START­SEI­TE
Pressekontakt

Bei Fra­gen zu die­ser Mel­dung oder zur Auf­nah­me in den Pres­se­ver­tei­ler mel­den Sie sich per Mail oder Tele­fon bei Tobi­as Rau­ser, Lei­ter Pres­­se- und Öffent­lich­keits­ar­beit: Tele­fon: +49 (0)160–99605655 oder

KAPNEWS

Der News­let­ter der Kapuziner
Wol­len Sie über die Kapu­zi­ner und ihr Enga­ge­ment  infor­miert blei­ben? Dann mel­den Sie sich kos­ten­los für unse­re monat­li­chen „KAPNEWSan.
www.kapuziner.org/newsletter