
FOTO: KAPUZINER/LÊMRICH
BR. Christophorus Goedereis
leitet als Provinzial seit 2019 die Deutsche Kapuzinerprovinz.
„Grüner, gerechter, entschleunigter und friedlicher“
In diesem Jahr feiern die franziskanischen Orden ein besonderes Jubiläum: Vor 800 Jahren kamen die ersten Minderbrüder aus Italien über die Alpen nach Deutschland. Ein Interview mit dem Kapuziner-Provinzial Christophorus Goedereis über den Begriff Minderbrüder, besondere Wegmarken und die Zukunft der Orden.
Bruder Christophorus, können Sie uns den Begriff „Minderbrüder“ und „Bettelorden“ etwas erläutern?
Der Begriff Minderbrüder hängt mit der mittelalterlichen Ständeordnung zusammen. Da gab es die maiores, also die Größeren wie Adel, Klerus und reiche Kaufleute, und die minores, also die Kleineren und Minderen wie einfache Leute, Bauern, Bettler. Franziskus hat das lateinische Wort minor gewählt, um damit die am Evangelium orientierte Ausrichtung seiner Gemeinschaft zum Ausdruck bringen. Der Begriff „Bettelorden“ hängt damit zusammen, ist aber sehr missverständlich. Er bedeutet nicht, dass die Minderbrüder vom Betteln leben sollen. Der heilige Franziskus sagt vielmehr: „Die Brüder sollen von ihrer Hände Arbeit leben, und wenn das nicht ausreicht, dann sollen sie zum ‚Tisch des Herrn‘ Zuflucht nehmen.“ Mit ‚Tisch des Herrn‘ ist der Tisch Gottes und damit die Almosen gemeint – aber eben erst dann, wenn nach getaner Arbeit der Lohn ausbleibt.
Was unterscheidet die drei franziskanischen Orden in Deutschland, die Minoriten, die Franziskaner und die Kapuziner voneinander?
Die Minderbrüder waren von Anfang an in stetiger Bewegung und Veränderung. Aus der kleinen Gruppe des Anfangs entwickelte sich schon zu Lebzeiten des heiligen Franziskus ein großer Orden von mehreren Tausend Brüdern. Das brachte kontroverse Diskussionen über die innere Ausrichtung sowie die äußere Organisation mit sich – und führte im Laufe der Geschichte zu zahlreichen Abspaltungen und Reformen. Die Minoriten (hier klingt das minores an) ließen sich bereits im 13. Jahrhundert in den großen Städten nieder, bauten große Konvente und glichen sich den alten Orden der Benediktiner und Zisterzienser an. Daher erhielten sie auch den Beinamen Konventualen.
Der franziskanische Orden lebt in stetiger Transformation.
Als Gegenbewegung entstanden seit dem 14. Jahrhundert die Observanten, die wieder zu den ursprünglichen Idealen des Gründers zurückkehren wollten. Als auch dieses Feuer wieder seine Kraft verlor, gingen 1528 aus den Observanten die Kapuziner hervor. Sie betonten wieder neu das Leben in den Einsiedeleien, die Armut sowie die Sorge um die Pestkranken. Ihnen wird auch eine besondere Nähe zum einfachen Volk nachgesagt. Die Observanten wurden erst 1898 mit anderen Reformbewegungen zusammengeschlossen und heißen seither in Deutschland Franziskaner. Zum Zeitpunkt der jeweiligen Reform waren die Unterschiede zwischen den einzelnen Zweigen natürlich markant ausgeprägt, vor allem was die franziskanische Armut betrifft. Im 21. Jahrhundert sind die drei Zweige bezüglich ihrer jeweiligen Tätigkeiten und Schwerpunkte sowie bezüglich ihres Lebensstils von außen kaum mehr zu unterscheiden.
800 Jahre Minderbrüder in Deutschland, das ist eine stolze Zahl, ein fast unüberblickbarer Zeitraum. War es eher „ein langer ruhiger Fluss“ – oder würden Sie einige Wegmarken ganz besonders herausgreifen wollen?
„Ruhige Flüsse“ gibt es weder in der Kirchengeschichte noch in der Ordensgeschichte. Die 800 Jahre waren eine bewegte Zeit. Kleines Beispiel: in der Zeit der Reformation traten viele Konvente der Minoriten geschlossen zum Protestantismus über. Die Kapuziner hingegen entstanden genau in jener Epoche als inner-katholische Erneuerungsbewegung. Oder nehmen wir das Zeitalter der Säkularisation, als nahezu alle Orden in Deutschland ihre Klöster verlassen mussten: da entsandten viele franziskanische Orden ihre Mitglieder in die Vereinigten Staaten, um dort neue Ordensprovinzen aufzubauen. Der franziskanische Orden lebt in stetiger Transformation. Vielleicht wird in einigen Jahrzehnten aus den drei Zweigen wieder der eine Orden der Minderbrüder, wer weiß das schon?
Stichwort Wegmarken: Rund einhundert Jahre nach dem Eintreffen der ersten Minderbrüder wütete die Pest in Europa, andere Seuchen folgten – und heute Covid-19. Oft waren damit Epochenwechsel verbunden. Stehen wir heute wieder vor einer neuen Epoche? Was wird sie kennzeichnen?
Ich glaube, dass wir auch unabhängig von Corona mitten in einem Epochenwechsel stehen. Die großen Themen der Menschheit kommen durch die Pandemie nur um so deutlicher zum Vorschein. Ich nenne hier nur ein paar Stichworte: Klimakrise, Migration, Gerechtigkeit und Frieden unter den Völkern, Dialog der Weltreligionen, die Werte- und Sinnfrage sowie die schleichende Erkenntnis, dass ungebremstes Wachstum nicht der Sinn dieses Planeten sein kann. Diese Fragen sind aber auch zutiefst auch ur-franziskanische Themen – und fordern uns franziskanische Menschen auf neue Weise heraus. Wie die neue Epoche aussehen wird, weiß ich natürlich auch nicht. Ich hoffe: grüner, gerechter, entschleunigter und friedlicher.
Wo würden uns niederlassen, um wen würden wir uns kümmern?
Was planen die Kapuziner, die Minoriten und Franziskaner für dieses besondere Jubiläumsjahr? Was lässt sich trotz Corona-Pandemie realisieren – oder was muss gerade deswegen getan werden, welche Zeichen wollen sie setzen?
Was Corona zulässt, bleibt abzuwarten. Der Erste Orden plant ein interfranziskanisches Jubiläumsfest in Würzburg. In Augsburg, wo die Minderbrüder vor 800 Jahren ankamen, gibt es eine ökumenische Festwoche. Ein paar Publikationen sind auch vorgesehen. Und der Bayerische Rundfunk will einen Film zum Thema drehen. Mich selbst bewegt die Frage: Wenn die Minderbrüder heute im Jahr 2021 zum ersten Mal nach Deutschland kämen und hier noch keine Tradition hätten: Wo würden wir uns niederlassen, um wen würden wir uns kümmern, welche Schwerpunkte würden wir setzen, wie und wovon würden wir leben?
Viele Orden mussten in den vergangenen Jahrzehnten Niederlassungen schließen, auch in Altötting verlassen die Kapuziner das Kloster St. Magdalena. Es fehlt an Nachwuchs – wie an Berufungen allgemein in der Kirche. Warum scheint Ordensleben heute so wenig Anziehungskraft auszuüben?
Das hat vielerlei Gründe. In den nordwesteuropäischen Gesellschaften liegt das Thema Religion und Glaube derzeit nicht gerade obenauf. Die demographische Entwicklung spielt eine Rolle, ebenso die sogenannte Bindungsunfähigkeit des post-modernen Menschen. Aber auch der Imageverlust von Kirche und institutioneller Religion ist nicht zu unterschätzen.
In der Heilsgeschichte Gottes wird die franziskanische Idee und Lebensweise immer ihren Platz haben.
Blicken Sie trotz des derzeitigen Rückgangs der Brüdergemeinschaften oder gerade wegen des schon 800 Jahre andauernden Ordenslebens optimistisch in die Zukunft? Was gibt Ihnen Hoffnung?
Optimismus ist keine Frage von Nachwuchszahlen. Die Verheißung Jesu heißt, dass das Reich Gottes wächst. Sogar ohne unser Zutun. Nur wächst es anders und langsamer, als wir das gerne hätten. Aber es wächst. Außerdem glauben wir als Christen an die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen und mit der Welt. Aber auch die verläuft nun mal nicht als „ruhiger Fluss“, sondern eher als ein Strom, der sich immer wieder neue Verläufe und Durchbrüche suchen muss – selbst wenn es zwischendurch mal so aussehen sollte, als dass nur noch ein Rinnsal vorhanden wäre. In der Heilsgeschichte Gottes wird auch die franziskanische Idee und Lebensweise immer ihren Platz haben. Daher kann ich gar nicht anders, als optimistisch zu sein.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Wolfgang Terhörst vom Liebfrauenboten.