
FOTO: KAPUZINER/Adrian Müller
BR. ADRIAN HOLDEREGGER
lehrte von 1982 bis 2012 theologische Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg. Der Schweizer Kapuziner ist seit 2009 bei der UNO als offizieller „Ambassador for Peace“ tätig.
Ein Schweizer Kapuziner an der UNO
Der Schweizer Kapuziner Br. Adrian Holderegger ist bei den Vereinten Nationen als «Ambassador for Peace» tätig. Der Ordensmann berichtet im Interview über seine Aufgabe und die Chancen und Herausforderungen des interreligiösen Dialogs.
Br. Adrian, Sie sind „UNO-Botschafter für den Frieden“. Welchen Frieden verkünden Sie?
Ich verkünde keinen Frieden – dies wäre zu anmaßend, aber ich versuche innerhalb dieser riesigen, weltumspannenden Institution in bestimmten Bereichen meinen Friedensbeitrag zu leisten, indem ich meine politische Erfahrung und meine friedensethische Kompetenz einzubringen versuche. Ich habe mich noch als akademischer Lehrer intensiv mit Friedenskonzepten in den Religionen auseinandergesetzt. Dies kommt mir sehr zustatten bei den verschiedenen Aktivitäten und Interventionen, sei es am Sitz der UNO in Genf oder vor Ort, in Hotspots politischer Konflikte.
Wie kommt man zu einer Aufgabe bei der UNO?
Ich wurde zum «Ambassador für Peace» ernannt, als Alt-Bundesrat Joseph Deiss Präsident der UN-Generalversammlung war. Wir kannten uns und so hat er mich zu verschiedenen Konferenzen beigezogen, etwa zum Thema Multikulturalismus, Religionspluralismus, Religionen im Konflikt. Der Titel ist ein Ehrentitel, der nicht mit einer konkreten Mission versehen ist, aber berechtigt, an allen wichtigen Sitzungen der UN teilzunehmen, sofern sie nicht geheim sind. In den letzten Jahren habe ich meine Arbeit aufgrund entsprechender Anfragen fokussiert auf die Frage nach dem Gewaltpotential von Religionen und ihrem friedens- und versöhnungsfördernden Beitrag.
Sie sind mit dem Leben von Franz von Assisi vertraut. Welche Inspirationen gibt er Ihnen?
Es hat mich immer wieder berührt, wie Franziskus noch auf dem Sterbebett – seinem berühmten Sonnengesang – eine Friedensstrophe hinzugefügt hat, als er erfuhr, dass der Bischof von Assisi und der Bürgermeister miteinander im Streit lagen. Franziskus ist bis in seine letzte Faser seines Leibes vom Lebensgrundsatz geprägt, dort, wo Böses gesagt und getan wird, Gutes zu sagen und zu tun. Wir haben uns zu vergegenwärtigen, dass Franziskus in einer gewaltdurchsetzten Zeit lebte: Städte haben einander bekriegt, Raubritter haben Land und Leute verunsichert, Päpste haben zum bewaffneten Kreuzzug aufgerufen. Franziskus ist zutiefst davon überzeugt, dass Konflikte im politischen Großraum wie in sozialen kleinteiligen Räumen nicht über verbale und brachiale Gewalt zu lösen sind, sondern über Hinhören, Verstehen, Vermitteln und Versöhnen.
Wie wurde aus Franziskus’ Einstellung konkretes Handeln?
Er hat seinen Brüdern aufgetragen, jedem Haus, in das sie eintraten, Frieden und Heil zu wünschen. Franziskus hat diese grundsätzliche Einstellung selbst in einer großartigen Geste in der Begegnung mit dem Sultan Melek-el-Kamel im ägyptischen Damiette von 1219 gezeigt: er trat buchstäblich zwischen das islamische Heer des Sultans und das christliche Heer der Kreuzritter, die im Begriffe standen, einander bis aufs Blut zu bekriegen. Franziskus hat dies – wir würden heute sagen – in der direkten Begegnung über die Diplomatie der gegenseitigen Verständigung, über die Kraft des überzeugenden Wortes, das nicht auf Gewalt sinnt, sondern auf Schlichtung aus ist, zu verhindern versucht. Für mich ist diese Haltung von Franziskus eine Motivation für eine kontrafaktische Lesart der Geschichte, die der Gewalt nicht das letzte Wort lässt, sondern der Verständigung und dem friedlichen Miteinander Vorrang gibt.
2018 verabschiedeten ranghohe Repräsentanten sechs großer Weltreligionen am UNO-Sitz in Genf die Deklaration für gleiche Bürgerrechte vor dem Forum der UNO in Genf. Zehn Jahre lang haben Sie mit anderen auf diesen Moment hingearbeitet. Was waren die größten Herausforderungen auf dem Weg zur Unterschrift?
Das war ein feierlicher und bewegender Moment, als im Juni 2018 in Genf mehr als hundert ranghohe Vertreter der Weltreligionen ein gemeinsames Dokument unterzeichneten, mit dem festen Willen, inskünftig zusammenzuarbeiten, im Hinblick darauf, dass in den jeweiligen Einflussgebieten, Grundrechte durchgesetzt werden sollen. Grundrechte, die in der gleichen Würde aller Menschen ihre Basis haben und trotz religiöser, kultureller und politischer Differenzen niemanden ausschließen dürfen. Bemerkenswert war, dass der Vatikan mit Kardinal Tauran, dem damaligen Leiter des «Päpstlichen Rats für den interreligiösen Dialog», vertreten war, wie auch der Ökumenische Weltkirchenrat mit seinem Generalsekretär Olav Fykse Tveit.
Worin lag die größte Schwierigkeit auf dem Weg zur Unterzeichnung?
Diese bestand darin, für die Religionen eine gemeinsame, ethisch-moralische Plattform für das soziale und politische Engagement in unserer Welt zu finden. Dass man sich nach Jahrzehnten der ergebnislosen Diskussion auf das Konzept der Grundrechte, die allen Menschen zukommen, einigen konnte, scheint mir ein großer Durchbruch zu sein. Und darauf bin ich heute noch stolz, dass ich dieses Dokument mitunterzeichnen durfte.
Verschiedentlich habe ich den Eindruck, dass Religionen mit den Menschenrechten so ihre Probleme haben. Die Deklaration von 2018 spricht von Bürgerrechten. Wieso nun diese Unterscheidung?
Das ist eine präzise Beobachtung. Seit den 1960er-Jahren wurde in vielen Religionsgesprächen versucht, die Menschenrechte, wie sie von der UN von 1948 proklamiert wurden, als gemeinsame Basis des Handelns anzuerkennen. Die Widerstände kamen aber fast ausschließlich aus der islamischen Welt, weil man Schwierigkeiten damit hatte, das göttliche Gesetz der Scharia, dem moralischen Anspruch der Menschenrechte unterzuordnen. Zum Beispiel gibt es das zentrale Menschenrecht der Religionsfreiheit, das auch einen Religionswechsel vorsieht. Das islamische Recht schließt einen Religionswechsel kategorisch aus. Ähnliches gilt auch für die Frauenrechte.
Da wird es schwierig!
Diese Pattsituation war nicht zu überwinden, bis im interreligiösen Dialog ein Ausweg gefunden wurde: die Grundrechte. Wie das? In der islamischen Tradition gibt es die berühmte «Gemeindeordnung» von Medina (622), die von Mohammed verfasst sein soll. Darin ist von Grundrechten die Rede. Rein pragmatisch und ohne religiösen Bezug entwirft hier Mohammed ein politisches Konzept, das auch nichtmuslimischen Bürgern die gleichen politischen und kulturellen Rechte zugesteht, etwa jüdischen oder nichtchristlichen Minderheiten. Dies ist nun der Anknüpfungspunkt für weitere Diskussionen und Weiterentwicklungen des interreligiösen Dialogs.
Spannend! Hans Küng betonte sehr, dass es einen Weltfrieden nur mit einem Frieden unter den Religionen gibt. Kann man die Deklaration von 2019 in diesem Sinn sehen?
Das ist eine gute Frage. Hans Küng kommt das große Verdienst zu, die interkonfessionelle Ökumene auf die Ökumene (d.h. auf das Gemeinsame) der Religionen ausgeweitet zu haben. Er versuchte im «Weltethos» eine gemeinsame ethische Basis aller großen Religionen zu formulieren. Im Kern entsprach dies den zehn Geboten, wie wir sie praktisch in allen großen Religionen finden. Das war ein großartiges Unterfangen, das im «Weltkonzil der Religionen» in Chicago von 1992 einen Höhepunkt fand und zu einer Unterzeichnung einer gemeinsamen Deklaration führte. Seine Devise, dass es keinen Weltfrieden gibt, wenn es keinen Frieden unter den Religionen gibt, gilt selbstverständlich nach wie vor. Das Problem dieser Initiative lag vor allem darin – nebst interner theologischen Schwierigkeiten –, dass sie nicht von der internationalen Staatengemeinschaft, der UNO, aufgegriffen und sanktioniert wurde. Die aktuelle Initiative der Religionen ist dagegen vom gegenwärtigen Generalsekretär der UNO, Antonio Gutierrez, ausdrücklich gewünscht und gutgeheißen.
Welche Folgen kann man drei Jahre nach dem Unterzeichnen der Deklaration feststellen? Hat sich schon etwas verändert? Was ist auf dem Weg?
Die Saat geht manchmal da auf, wo man sie niemals vermutet. Bereits am 4. Februar 2019 traf sich Papst Franziskus mit Großimam Ahmed Mohamed el-Tayeb in Abu Dhabi. Im Dokument, das sie gemeinsam unterzeichnet haben, werden grundlegende Ideen der Deklaration der Religionen aufgenommen. Das feierlich unterzeichnete Dokument heißt: «Über die Geschwisterlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt.» Hier erkennen wir einerseits die Handschrift des Papstes, indem er das urfranziskanische Thema der Geschwisterlichkeit im Gespräch mit dem Islam zum zentralen Anliegen erklärt. Andererseits wird auf die Grundrechte verwiesen – hier bringt sich der Islam ein –aufgrund der gleichen Würde, die allen Menschen verliehen ist. Daher sind sie gerufen, als Brüder und Schwestern zusammenzuleben und auf der Erde «die Werte des Guten, der Liebe und des Friedens zu verbreiten». Damit sind selbstverständlich die Detailfragen der Umsetzung der Geschwisterlichkeit in Recht und Politik nicht gelöst. Hier ist aber ein starkes Zeichen gesetzt.
Hatte dies eine Wirkung auf internationaler, politischer Ebene?
Ja, erfreulicherweise. Manchmal bleiben Stichworte und Kerngedanken hängen. Die «Geschwisterlichkeit», so wie sie von Papst Franziskus und vom Großimam el-Tayeb proklamiert wurde, ist vom Generalsekretär der UNO im Februar 2021 zu einem Welttag der UNO erklärt worden. Damit hat das Uranliegen der Versammlung Weltreligionen von 2018 auf Umwegen die Bühne der Weltpolitik erreicht.
Was ist Ihnen in der Arbeit bei der UNO wichtig geworden?
Man versucht, die UNO immer an ihren großen politischen Erfolgen zu messen. Sicherlich ist vieles defizitär und reformbedürftig. Ich glaube aber, dass man die Frage umgekehrt stellen sollte: Was wäre, wenn es die UNO nicht gäbe? Es gäbe die vielen, vielfach nicht erwähnten Interventionen der Hungerbekämpfung, der medizinischen Versorgung, der Bildungsoffensiven, der lokalen Streitvermittlung usw. nicht. Die Welt wäre wohl an Humanität um einiges ärmer.
Weihnachten gilt als Fest des Friedens. Vielen Menschen ist diese Zeit sehr wichtig. Aber was hat nun Weihnachten mit Frieden zu tun?
Die Evangelien sagen uns, dass Weihnachten das Fest des Friedens und der Versöhnung ist, weil Gott in der Einigung absoluter Gegensätze, des Göttlichen und des Endlichen, in Jesus einen Weg aufgezeigt hat, wie Gegensätze überwunden, Gräben zugeschüttet und Wunden geheilt werden können. Wenn wir dieses Fest jedes Jahr aufs Neue feiern, heißt das, dass Friede, Verständigung, Gerechtigkeit ein fragiles Gut um das wir immer wieder neu ringen müssen. Das zeigt uns die gegenwärtige geopolitische Lage besonders. Nichts ist selbstverständlich.
Danke für das Gespräch!
Das Interview führte der Kapuziner Br. Adrian Müller und ist zuerst in der Zeitschrift ITE erschienen.