
FOTO: Tobias Rauser
BR. MARINUS PARZINGER
wurde 1963 in Freilassing geboren. Er trat 1987 in den Kapuzinerorden ein und wurde 1994 zum Priester geweiht. Bruder Marinus leitet den Kapuzinerkonvent St. Konrad im Wallfahrtsort Altötting.
„Wir sind längst nicht am Ziel“
Br. Marinus Parzinger kümmert sich in der deutschen Kapuzinerprovinz um die Präventionsarbeit. Im Interview spricht der Ordensmann über den nötigen Bewusstseinswandel, die Einbeziehung von Betroffenen und hilfreichen gesellschaftlichen Druck.
Bruder Marinus, welche Rolle spielt Prävention im großen Komplex Missbrauch?
Alles hängt miteinander zusammen. Für eine gute Präventionsarbeit brauchen wir auf jeden Fall eine umfängliche Aufklärung. Nur wenn wir konkret wissen, was und warum etwas passiert ist, kann diese Aufarbeitung dazu führen, dass in Zukunft Missbrauch verhindert wird. Und das ist Ziel der Präventionsarbeit.
Dabei geht es um viel mehr als sexuellen Missbrauch.
Ja, das ist so. Es ist wichtig, dass wir die Fixierung auf sexuellen Missbrauch überwinden. Auch beim Thema „geistlicher Missbrauch“ geht es viel zu langsam voran. Dabei geht es um die Art, wie wir präsent sind, wie wir Leuten begegnen. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir Macht und Ansehen haben. Wir werden zu Rate gezogen, das darf man nicht zu leicht nehmen. Jeder muss sich selbst hinterfragen und permanent zu diesem Thema weiterbilden. Zwar wächst in der Seelsorge die Sensibilität, aber da sind wir längst nicht am Ziel.
Ist das Bewusstsein für einen Wandel vorhanden?
Das würde ich schon so sehen. Allen sollte klar sein: Es geht hier nicht um Formalien wie Selbstverpflichtungserklärungen oder ein erweitertes Führungszeugnis. Das sind Standards, eine Selbstverständlichkeit in allen Bereichen, in denen mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet wird . Wichtig bei diesem Thema ist die Rückendeckung in der Provinzleitung und das Interesse und Wohlwollen der Hausoberen, die sich vor Ort des Themas annehmen. Präventionsarbeit kann ja auch spannend. Es geht um die Frage der Selbstreflexion. Wie reflektiere ich die Macht, die ich habe? Bin ich mir meiner Identität, meiner Aufgabe und Rolle bewusst? Reden wir in der Gemeinschaft miteinander, auch über tabuisierte Themen?
Kann man die Schweigestruktur in Institutionen wie der Kirche durchbrechen?
Es gibt keine Alternative dazu! Ich lese zurzeit das Buch „Der Elefant im Zimmer“ von Petra Morsbach, die ich vor Jahren schon einmal kennengelernt habe. Sie beschreibt ungemein präzise, wie Institutionen im staatlichen, kirchlichen und kulturellen Bereich reagieren, wenn es um Macht und Machtverlust geht. Das ist erschreckend, anregend und erhellend zugleich.
Wo steht die Kirche in diesem Prozess?
Noch am Anfang, würde ich sagen, zumindest, was die Gesamtkirche angeht. Es gibt einen gesellschaftlichen Druck, für den ich dankbar bin, der die Umbruchprozesse beschleunigt. Die Rolle der unabhängigen Medien und der Öffentlichkeit sind sehr hilfreich in diesem Prozess.
Und die Kapuziner?
Wir werden das Thema in den nächsten Monaten verstärkt angehen. Das Thema wird in den einzelnen Häusern diskutiert und wir erarbeiten Schutzkonzepte für jeden einzelnen Konvent und auch unsere externen Institutionen. Wir wollen nicht nur Papier produzieren, sondern ganz konkret in den Häusern das Thema ansprechen und weiterbringen.
Es gibt eine Rahmenordnung für Prävention der Bischofskonferenz.
Genau, diese (adaptierte Form der DOK) haben wir übernommen. Viele Elemente sind da für uns nicht neu, wie Führungszeugnis, Verhaltenskodex oder Beschwerdeweg. Dieser ist im Übrigen einer der wichtigsten Punkte. Wie läuft es ab, wenn jemand etwas ahnt oder einen Verdacht hat? Da geht es nicht um ein System der Bespitzelung, sondern der Blick geht auf Menschen, denen möglicherweise Leid zugefügt wird. Teil dieser Rahmenordnung sind auch Risikoanalysen und vor allem die Kommunikation. Welche Praxis gibt es bei uns, Konflikte anzusprechen und nicht zu verdrängen?
Geht das nur mit Hilfe von Außen?
Ja, das denke ich schon. Es dient uns allen, wenn erfahrene Leute uns unterstützen. Wir müssen die Fragen klären, wie Betroffene einbezogen werden – und wie wir das auf Augenhöhe hinbekommen. Wir brauchen diese Stimmen, wir müssen auch Missbrauchsopfer konkret kennenlernen und ihre Geschichten hören. Wenn Sie Berichte von Betroffenen lesen oder hören und das wirklich an sich heranlassen, dann wird Sie das verändern. Man schaut in einen Abgrund und sieht, was Menschen anderen Menschen antun können. Die Betroffenen können diesen Abgrund nicht zuschütten, sie müssen damit leben. Das hilft auch bei dem Reflex, seine Institution für etwas zu verteidigen, das man nicht verteidigen sollte. Und nicht zuletzt sind externe Ansprechpartner für Betroffene hilfreich und wichtig, um die Hürden für die Kontaktaufnahme gering zu halten.
Das Interview führte Tobias Rauser