

FOTO: KAPUZINER/KUSTER
800 Jahre Wundmale des Franziskus (Serie: Teil 2/2)
Franz von Assisi hatte vor 800 Jahren, 1224, auf dem Berg La Verna eine Vision, in der er die Wundmale empfing. Ein über-sinnliches Phänomen? Der Franziskus-Forscher Br. Niklaus Kuster, Kapuziner in Rapperswil, gibt Antwort.
Lesen Sie hier Teil 1 des Artikel von Br. Niklaus Kuster
Himmel und Erde – übersinnlich
Thomas spricht von einem Gottesgesicht und spielt auf Ezechiel an. Franziskus habe einen Mann geschaut, der einem Seraphen glich, einem feurigen Engel mit sechs Flügeln (Ezechiel 1). Die lichtvolle Erscheinung habe ihn mit höchstem Staunen und tiefster Freude erfüllt. Das himmlische Wesen hätte ihn überaus liebevoll angeschaut und mit «unbeschreiblicher Schönheit» fasziniert. Zugleich hätten die Flügel die Gestalt eines Mannes umhüllt, der an einem Kreuz zu hängen schien. «Traurig und freudig zugleich» erlebte Franz ein Wechselbad von Glück und Erschütterung.
Die Barditafel legt den Fokus auf ein lichtvolles Beziehungsgeschehen. Der erste Biograf und Gefährten erzählen, im Gefolge dieser überwältigenden Gotteserfahrung hätten sich Franziskus’ Hände und Füsse verändert gezeigt: Ohne Wunden oder Narben zu bilden, sei die Haut verformt gewesen und hätte an die Wundmale des Gekreuzigten erinnert. Aus Franziskus’ Seite sei immer wieder Blut getropft.
Moderne Forscher haben mitunter abenteuerliche Erklärungen für das Phänomen präsentiert: von Betrug über Selbstverletzung bis zu Lepra. Der Mittelalterforscher André Vauchez spricht von derart starken seelischen Erfahrungen, dass diese sich auch körperlich auswirken.
Eine befreiende Ostererfahrung
Wichtiger jedoch als die körperliche Veränderung des Bruders ist die seelische: In seinem Leiden fand er Trost in der wochenlangen Betrachtung des Leidens Jesu, in dessen Nachfolge er so beherzt lebt. Die Christusvision lässt ihn aus der Passion ins Osterlicht gelangen.
Fortan zieht Franziskus wieder engagiert durch Mittelitalien, fasziniert Menschen, schlägt Brücken und stiftet Frieden. Weil er körperlich krank, halbblind und geschwächt ist, tut er es auf einem Esel. Er findet zudem neue Wege, seine Friedenssendung wahrzunehmen. So dichtet er den Sonnengesang, der die ganze Schöpfung als Ort Gottes und Haus des Lebens besingt. Rundbriefe an die Lenker der Völker und an alle Menschen sprechen von einer geschwisterlichen Menschheit, in der es keine Fremden gibt.
Eigene Lichterfahrungen
Neunzig Jahre später kommt auch Dante auf La Verna zu sprechen. Er nennt den Berg einen «rauen Felsen zwischen Tiber und Arno». Hier habe Franziskus «seine letzte Bestätigung von Christus empfangen, die sein Leib dann zwei Jahre lang trug».
Die Vision führt Franziskus biografisch zu einem Durchbruch in eine neue Tiefe und Weite. Sie erinnert an die Jünger Jesu, die sich durch den Karfreitag erschüttert verkriechen und nach Ostern leidenschaftliche Boten des Auferstandenen werden.
Wenn sich 2024 Franziskus’ Vision zum 800. Mal jährt, gibt es keinen Grund, La Verna über die biblischen Berge der Heilsgeschichte zu erheben. Der Ort ruft jedoch dazu auf, eigenes Leiden in Gottes Licht zu stellen, für befreiende Lichterfahrungen im eigenen Leben zu danken und selber Raum für innige Begegnungen mit dem Göttlichen zu schaffen.
Text: Br. Niklaus Kuster