
FOTO: SLW ALTOETTING
„Die Kinder, die Hilfe brauchen, werden immer jünger“
Das Kinderhilfswerk der Kapuziner hat ein neues Gesicht als SLW-Präses: Bruder Marinus Parzinger. Ein Gespräch über den Umgang mit sogenannten Systemsprengern, den Wert religionssensibler Erziehung und das Ringen um finanzielle Unterstützung und sozialpolitischen Rückhalt.
Bruder Marinus, was reizt Sie an Ihrer neuen Aufgabe?
Am meisten reizt mich, dass ich mich hier aktiv für Kinder und Jugendliche einsetzen und ihnen ein Stück Zukunft ermöglichen kann. Der Schwerpunkt unserer Angebote liegt ja im Bereich Jugendhilfe. Das heißt, wir kümmern uns großteils um junge Menschen, die bereits in frühen Jahren physische und psychische Verletzungen erlitten haben. Die nicht das Glück hatten, in einem gesunden Umfeld aufzuwachsen. Für die sich niemand in der Familie interessiert hat, denen keiner ein stabiles Rückgrat verliehen hat. Diese Kinder und Jugendlichen begleiten wir in unseren heilpädagogischen Tagesstätten, betreuten Wohngruppen und in vielen weiteren ambulanten Angeboten. Daneben betreibt das SLW auch Krippen, Kindergärten und Horte sowie fünf Grund- und Mittelschulen.
Das SLW hat Einrichtungen in Altötting, Marktl, Herzogenaurach, Feucht, Parsberg, Traunstein, Wartenberg und – ganz neu – in Fürstenzell. Das sind keine Großstädte, wo man soziale Brennpunkte eigentlich erwarten würde.
Das eigentlich Erschreckende für mich ist: Die Kinder, die Hilfe brauchen, werden immer jünger. Wir haben Buben und Mädchen im Kindergartenalter, die manchmal so sehr aus der Spur geraten und austicken, dass eine Erzieherin alleine nicht mehr mit ihnen zurechtkommt. Diese Kinder sprengen das System Kindergarten, so wie wir es bislang kennen. Die brauchen eine ganz intensive Förderung, wie wir sie zum Beispiel in unseren heilpädagogischen Tagesstätten anbieten. Systemsprenger gibt es überall, das ist keine Frage von Stadt oder Land. Auch in Marktl werden Jugendliche in Obhut genommen, die von der Polizei auf der Straße aufgegriffen wurden. Das sind junge Menschen, die nicht schulfähig sind, die nicht bereit sind, sich in irgendeiner Weise auf Regeln einzulassen. Und da sind wir gefordert: Wie begegnen wir als christliche Einrichtung diesen Kindern und Jugendlichen, die an den Rand geraten oder übersehen worden sind?
Für Pädagogen heißt das: sich wirklich einlassen auf die Not des Kindes, es bejahen, auch wenn es Mist gebaut hat, ihm das Gefühl vermitteln, als Geschöpf Gottes gewollt zu sein. Das darf nichts Aufgesetztes sein, da geht’s um Haltungen.
Wie sehr prägt Franziskus die Arbeit im Kinderhilfswerk der Kapuziner?
Franziskus ist in vielerlei Hinsicht ein Vorbild. Auch wenn er keine Jugendpädagogik entwickelt hat, wie wir sie zum Beispiel von Don Bosco kennen, gibt es einige franziskanische Leitgedanken, die für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen sehr wertvoll sind. Franziskus hat zum Beispiel immer den Menschen im Blick gehabt, er ist ihm auf Augenhöhe begegnet, hat jedem Einzelnen seine Wertschätzung entgegengebracht. Für Pädagogen heißt das: sich wirklich einlassen auf die Not des Kindes, es bejahen, auch wenn es Mist gebaut hat, ihm das Gefühl vermitteln, als Geschöpf Gottes gewollt zu sein. Das darf nichts Aufgesetztes sein, da geht’s um Haltungen. Viele unserer Mitarbeiter leben diese Werte. Klar ist aber auch: Die jungen Menschen, die in unseren therapeutischen Einrichtungen sind, haben Probleme. Mit einem religionssensiblen Erziehungsansatz allein lassen sich diese nicht lösen.
Das Kinderhilfswerk geht überraschend offen mit der Frage um, wie es sich finanziert. Einnahmen und Ausgaben sind auf der Website des SLW für jedermann einsehbar. Was steckt dahinter?
Unsere Arbeit lässt sich durch die Tagessätze, die wir bekommen, nicht vollumfänglich finanzieren. Durch staatliche Förderungen decken wir rund 92 Prozent unserer Ausgaben. Die Politiker gehen davon aus, dass wir die verbleibenden acht Prozent als kirchlicher Träger über Spenden reinbekommen. Das wollen wir deutlich machen: Wir sind auf die finanzielle Unterstützung aus der Bevölkerung angewiesen. Zugleich fordern wir immer wieder die Sozialpolitiker dazu auf, die Tagessätze neu zu berechnen. Ja, man muss mit Geld verantwortlich umgehen, aber uns setzt das zum Teil massiv unter Druck. Das SLW ist keine Firma, die etwas produziert. Die Kinder und Jugendlichen, um die wir uns kümmern, sind für uns kein Objekt, an dem wir Geld verdienen. Im sozialen Bereich gibt es einen hohen Personalanteil und da kann man so leicht nichts sparen. Die Jugendämter erwarten immer noch mehr Qualität, fordern neue Angebote. Dafür muss man erst mal entsprechend ausgebildetes Personal finden. Wir haben den Anspruch, ein guter Arbeitgeber zu sein, unsere Mitarbeiter sollen sich wohlfühlen, entsprechend muss der Lohn das widerspiegeln.
Sie stehen gemeinsam mit Johannes Erbertseder und Stefan König an der Spitze des SLW. Warum die Konstellation eines Dreier-Vorstands?
Anders als mein Vorgänger, Pater Heinrich Grumann, bin ich nicht zu 100 Prozent im SLW. Ich verbringe nur die Hälfte meiner Zeit hier, da ich auch noch unsere Altöttinger Ordensgemeinschaft in St. Konrad leite, in der Wallfahrtsseelsorge mitarbeite und in unserer Provinz für Fragen der Prävention zuständig bin. Ich kann schon rein zeitlich gar nicht alle Aufgaben von Pater Heinrich übernehmen. Deshalb haben wir die Bereiche aufgeteilt. Im Vorstand stehen mit Johannes Erbertseder und Stefan König zwei äußerst erfahrene Kollegen an meiner Seite, die seit vielen Jahren hier sind. Beide haben sich in Umbruchsituationen innerhalb des Kinderhilfswerkes bewährt.
Für was sind Sie als Präses genau zuständig?
Zum einen repräsentiere ich das Kinderhilfswerk der Kapuziner nach innen und außen, ich bin sozusagen das Gesicht vom SLW. In dieser Funktion will ich die Menschen verstärkt darüber informieren, was wir tun und wie wir arbeiten. Der gesellschaftliche Rückhalt ist für unsere Einrichtungen ebenso wichtig wie die finanzielle Unterstützung. Zum anderen bin ich auch im SLW Ansprechpartner, wenn es um Fragen der Prävention geht. Und was mir ganz wichtig ist: Ich will das christliche Profil unseres Kinderhilfswerks schärfen, das Franziskanische, das im SLW steckt, stärker betonen. Grundlegende Impulse dafür habe ich bereits gesetzt. Das SLW hat vor zwei Jahren im Zuge unternehmensstrategischer Planungen eine Zukunftswerkstatt ins Leben gerufen, die ich als Provinzial der Kapuziner von Anfang an begleitet habe. Hier sind wertvolle Impulse gereift, die es gemeinsam umzusetzen gilt.
Freuen Sie sich darauf?
Es wird auf jeden Fall ein spannender Prozess – und die Fußstapfen meines Vorgängers sind groß! Pater Heinrich, der am 15. Februar in einem Festakt offiziell verabschiedet wird, war 35 Jahre lang Präses im SLW. Er hat maßgebliche Entwicklungen im Förderverein und in der Stiftung nicht nur begleitet, sondern ermöglicht. Es klingt vielleicht banal: Aber erst mal wünsche ich mir, diesen Übergang gut hinzubekommen, eine gewisse Kontinuität zu bewahren und vor allem die Unterstützung von den Leuten nicht zu verlieren, die uns auch bisher wohlgesonnen waren. Ohne seine Förderer könnte das SLW keine so gute Arbeit leisten!
Das Interview führte Beate Spindler