FOTO: KAPUZINER; Kapuziner/Zárate
BR. THOMAS und BR. JENS
leben ihre Berufung als Kapuziner. Br. Jens arbeitet in Frankfurt, Br. Thomas in einem Indigenen-Reservat in den USA.
Eine Berufung, zwei Wege: „Gott, was willst Du heute von mir?“
Der eine lebt in einem US-Reservat, der andere in Frankfurt am Main. Zwei Kapuziner, Br. Thomas Skowron und Br. Jens Kusenberg, sprechen über verschiedene Wege, Gott und den Menschen zu dienen.
Wann haben Sie beide das erste Mal Ihre Berufung verspürt?
Br. Jens: Meine Eltern hatten aus verschiedensten Gründen nichts mehr mit der Kirche zu tun, meine Großmutter war jedoch sehr gläubig. Ich hatte ganz klassisch Religionsunterricht, Erstkommunion und Firmung und nach dem Abitur habe ich Biologie, Germanistik und Theologie als Drittfach auf Lehramt studiert – da haben mich meine Theologieprofessoren sehr begeistert. Parallel dazu habe ich eine gute Gemeinde entdeckt und zunehmend wuchs in mir der Gedanke: Wenn ich dieses Evangelium in seiner Radikalität und in seiner fundamentalen Infragestellung des Lebensentwurfs, der als bürgerlicher Lehrer auf mich zukommt, wirklich ernst nehme, dann muss sich etwas ändern! Dann bin ich Franziskus von Assisi begegnet, der den Rat Jesu an den reichen Mann – „verkaufe, was du hast, gib es den Armen … dann komm und folge mir nach!“ (Mk 10,21) – wirklich gelebt hat. Das wollte ich auch für mich ausprobieren und bin schließlich auf die Kapuziner gestoßen. Schnell hat sich alles sehr gut für mich angefühlt und so bin ich nach dem Referendariat ins Postulat gegangen. Und genauso oft, wie ich eintreten wollte, wollte ich auch wieder austreten, aber die negativen Erfahrungen waren und sind nie so groß wie das, was ich für gut halte und wofür ich stehen möchte.
Br. Thomas: Ich bin in einer relativ durchschnittlichen polnischen Familie aufgewachsen. Wir sind jeden Sonntag zur Kirche gegangen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich mit meinen Eltern über den Glauben gesprochen oder mit ihnen gebetet hätte. Mit 13 hatte ich all das satt und wusste gar nicht mehr, ob ich überhaupt an Gott glaube. Dann habe ich beschlossen, diesem Gott und diesem Glauben einmal aktiv nachzuspüren. Es fing bei mir an mit der Bibel. Die Evangelien zu lesen war einer der wichtigsten Schritte für mich. Ich dachte mir: Wenn es Gott nicht gibt, dann brauch ich auch nicht in die Kirche gehen, aber wenn es Gott gibt, dann will ich meinen Glauben wirklich tief und bewusst leben. In einem Chatroom bin ich dann einem Typen begegnet, der plötzlich über Franziskus von Assisi gesprochen hat (und eigentlich alle dort damit genervt hat). Dann war er plötzlich aus dem Chatroom verschwunden – aber Franziskus war noch da. Nach der 10. Klasse zog ich nach Deutschland, entdeckte die Kapuziner und fuhr nach meinem Schulabschluss eines Tages quer durchs Land zum Konvent nach Dieburg bei Darmstadt. Einer der Brüder hat mir die Türe geöffnet, mich unglaublich herzlich empfangen, und ich habe mich sofort zuhause gefühlt. Ich habe ein paar Monate mit den Brüdern zusammengelebt und bin danach ins Postulat gegangen.
Gab es auch bei Ihnen Krisen?
Br. Thomas: Ja, kurz nach Beginn des Postulats. Innerhalb weniger Wochen habe ich plötzlich alles verneint und bin ausgetreten. Diese tiefe Enttäuschung über mich selbst, dass ich alles, was mir so wichtig war – meine Sehnsucht im Herzen –, weggeworfen hatte, war die dunkelste Erfahrung in meinem Leben. Als ich das überwunden hatte, wollte ich wieder zurück, aber die Brüder rieten mir, noch zu warten. Also habe ich Theologie studiert und dann wieder um Aufnahme gebeten, ich sollte jedoch erst mein Studium beenden. Anschließend gab es ein längeres Hin und Her mit dem Orden, bis ich endlich zum Kapuziner wurde. Die Brüder in Deutschland gehen in der Ausbildung ein Jahr ins Ausland, und ich habe mich für die USA entschieden, weil ich wunderbare Dinge über die Suppenküche der Kapuziner in Detroit gehört habe. Inzwischen habe ich um eine dauerhafte Versetzung in die amerikanische Provinz gebeten und bin seitdem hier.
Der Lebensentwurf von Ihnen beiden klingt ziemlich mutig und im besten Sinne radikal.
Br. Jens: Ich wurde mal von einer Frau interviewt, die mit mir über die Diskriminierung von Frauen in der Kirche sprach. Sie hat ja auch recht, aber das ist nicht alles. Ich habe ihr geantwortet: Ich habe mich für ein Ordensleben entschieden, weil ich auf das patriarchale System in unserer Gesellschaft keine Lust mehr habe. Ich will nicht heiraten oder Leistung bringen müssen, weil man das eben so macht. Leider ist das keine verbreitete Sichtweise auf unser Leben.
Br. Thomas: Die Gesellschaft sieht immer nur unseren Verzicht: Ich kann keine Familie, keinen eigenen Besitz haben und muss gehorsam sein. Das Problem ist jedoch, dass die Welt uns immer wieder verspricht, dass wir alles haben können, was wir wollen – Materielles, Beziehungen, Gefühle. Aber das ist Schwachsinn, denn diese Sehnsucht, dieses Fehlen wird immer da sein. Wenn ich hungrig bin, dann kann ich etwas essen, aber dann bekomme ich wieder Hunger. Dasselbe gilt für Sexualität oder Beziehungen. Sie werden uns nie ganz „satt“ machen. Und von daher unterscheidet sich unser Leben von anderen vielleicht darin, dass wir dieses Fehlen etwas bewusster aushalten und darauf vertrauen, dass es letztlich bei Gott im Himmel wunderbar erfüllt wird.
Mit Ihrem Eintritt in den Kapuzinerorden haben Sie sich besonders den Marginalisierten verschrieben, allerdings mit ganz unterschiedlichen „Zielgruppen“. Zu wem sind Sie besonders ausgesandt, Bruder Jens?
Br. Jens: Ich bin jetzt seit ein paar Wochen in Frankfurt und sitze hier viel im Beichtstuhl, gestern erst ununterbrochen für drei Stunden. Und alle kamen mit krassen Lebensereignissen, wo sie eine Schuld oder ein Versagen für sich gespürt haben. Danach habe ich mir gedacht: Wie schön, dass sich diese Menschen im Angesicht des sich erbarmenden Gottes ihre eigene Schuld und ihre eigene Sünde eingestehen können. Und ich darf Zeuge davon sein und kann ihnen sagen: Ja, so ist dieser Gott, an den du glaubst, nämlich barmherzig. Das macht mich sehr glücklich.
Die anderen Brüder machen Obdachlosenarbeit, Essensausgabe, Sozialberatung, sie versuchen, Menschen von der Straße zu bekommen. In dieser Banker- Stadt Frankfurt gibt es auch viele „anders Marginalisierte“ und daneben die vielen Obdachlosen – und die sitzen dann Seite an Seite bei uns in der Kirche.
Und zu welchen Randgruppen sind Sie besonders ausgesandt, Bruder Thomas?
Br. Thomas: Ich bin hier seit Anfang Januar in einem Indigenen-Reservat der Crow. Vorher war ich ein Jahr bei einem anderen Stamm. Ich versuche gerade vor allem, den Menschen zuzuhören, sie zu beobachten, kennenzulernen und ihre Probleme irgendwie zu verstehen. Wir haben hier unter anderem mit Erfahrungen des kulturellen Genozids zu tun und mit Generationen, die ständig gehört haben, dass sie minderwertig beziehungsweise keine richtigen Menschen sind. Zudem haben wir den Schauplatz der größten Schlacht zwischen Indigenen und der US-Armee gleich um die Ecke. Diese Wunden durch die Kirche, die Gesellschaft und die Regierung tragen die Indigenen in sich. Die Crow kamen ursprünglich aus einem anderen Teil des Landes und sie waren ein Wandervolk – und dann ist ihnen einfach von oben ein Land zugeteilt und eine bestimmte Lebensform aufgezwungen worden. Unser Landkreis ist der viertärmste in den USA, hier gibt es ganz viel Drogen- und Alkoholabhängigkeit. Ein benachbartes Städtchen ist eigentlich ein einziges Meth-Labor, und wenn ich dort Beerdigungen abhalte, dann spüre ich bei den Menschen in der Kirche einfach diesen generationsübergreifenden Schmerz. Vor allem junge Menschen versuchen wegzuziehen, weil sie diese Idealbilder von einem besseren Leben aus den Medien haben. Sie scheitern aber ganz schnell, weil sie merken, dass die amerikanische „Leitkultur“ gar nicht die ihre ist, und sie kommen verzweifelt zurück. Die meisten jungen Erwachsenen sind weg oder sitzen im Gefängnis und die Kinder werden von den Großeltern oder Nachbarn großgezogen.
Wie gehen Sie als Kapuziner mit dieser Not um?
Br. Thomas: Wir sind hier mittendrin und versuchen einfach, für die Menschen da zu sein. Wir machen viel traditionelle Seelsorge, viel Sakramentenseelsorge, Erstkommunion, Firmung. Darüber hinaus versuchen wir als katholische Kirche, die lokale Kultur und Tradition aufzunehmen – in unsere Liturgie, in unser Gebetsleben. Ein Beispiel: Wir benutzen eigentlich keinen Weihrauch, sondern die traditionelle Beweihräucherung aus den Zeremonien der Indigenen. Sie haben über Jahrhunderte gehört, dass sie das nicht machen dürfen, weil es „heidnisch“ sei, und sind dann positiv überrascht, dass wir es verwenden. Einer unserer Brüder spricht auch fließend die Sprache der Crow und hat die allererste Grammatik der Sprache geschrieben und sie somit quasi gerettet. Inzwischen sprechen wieder einige Menschen Crow – auch in oder nach unseren Gottesdiensten. Einer von unseren Kirchgängern sagte letztens so schön zu mir: „Weißt du, der Heilige Geist war hier lange vor den ersten Missionaren.“ Zudem versuche ich, mich in die Suchtarbeit einzufinden und Ökumene zu betreiben.
Kommen wir noch einmal zurück zum Thema Krise und Zweifeln: Was hat Sie durch diese Zeit getragen?
Br. Jens: Ich weiß natürlich, dass ich in meiner Familie, meinem Freundeskreis und meinen Brüdern aufgefangen bin, aber das Einzige, das mich seit 13 Jahren hält, ist, dass ich glaube, dass es diesen Gott gibt – wie auch immer er sich dann am Schluss ganz zeigen wird oder wie ich ihn am Ende vielleicht ganz verstehen werde. Wenn ich daran nicht fest glauben würde, dann wäre diese Lebensform völlig bescheuert. Es gibt diesen Satz von Dag Hammarskjöld: „Bete, dass deine Einsamkeit der Stachel werde, etwas zu finden, wofür du leben kannst, und groß genug, um dafür zu sterben.“
Br. Thomas: Ich habe gelernt, mich in jeder Krise zu fragen: Warum mache ich das überhaupt? Was waren die Beweggründe für meine Entscheidung? Ich besinne mich dann zurück auf die Anfänge. Ich weiß, dass man alles theoretisieren kann. Aber was am Ende bleibt, ist die Beziehung zu diesem Gott und der Glaube, dass diese Sehnsucht und dieses Fehlen von ihm schließlich erfüllt sein wird – schon ein bisschen hier auf Erden in diesem Leben, aber letztendlich ganz im Himmel. Und das war und das ist für mich der erste und der letzte Grund, warum ich das mache. Alles andere trägt nicht. Ich liebe es, mit Armen und Benachteiligten zu arbeiten, aber das kann auch ein Sozialarbeiter machen. Und die Gemeinschaft ist Segen und Fluch zugleich, aber sie ist natürlich trotzdem wichtig und trägt. Es hilft mir zu wissen, dass ich mit jemandem reden und ihm vertrauen kann.
Das andere ist das Gebet. Ich war Weihnachten in Gethsemani (in der Trappistengemeinschaft, in der auch Thomas Merton lebte), um ein paar Tage zu entschleunigen, aber nicht um meinetwillen, sondern um zu fragen: Gott, warum mache ich das eigentlich? Und die Frucht dieser Tage war nicht, viele Antworten zu finden, sondern diese Sehnsucht in mir zu spüren und zu erkennen, dass da viel mehr in meinem Herzen ist, als ich mir selbst und die Welt mir geben kann.
Br. Jens: Und dann muss ich noch ein praktisches Argument bringen. Was mir immer hilft, ist die Erkenntnis: Woanders ist es auch nicht besser! Ich fahre gerne nach Hause zu meinen Neffen, aber ich bin auch froh, wenn ich dann wieder in mein Kloster zurückkehren kann.
Wie sehen Ihre Pläne für die nächsten Jahre aus? Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Br. Jens: Ich kann das im Moment nicht sagen, das gehört auch zum Kapuzinersein. Aktuell ist alles in den deutschen und weltweiten Provinzen gar nicht mehr so sicher. Ich weiß jedenfalls, dass ich nicht für dreißig Jahre in Frankfurt sein werde. Ich weiß nur, dass ich in einer Brüdergemeinschaft sein werde, beten und mit anderen Menschen, die geistlich auf der Suche sind, zusammensein und zusammen suchen möchte. Aber wo das sein wird, das kann ich nicht sagen.
Br. Thomas: Ich habe immer wieder so meine persönlichen Träume. Mein neuester Traum ist es, in einem Gefängnis zu arbeiten und mit den Insassen Ikonen zu malen. In den fast vier Jahren, in denen ich jetzt in den Staaten bin, bin ich achtmal umgezogen. Ich weiß nicht, wo es als Nächstes für mich hingehen wird, aber ich mache auch keine Pläne. Ich bin gerne im Hier und Jetzt, und was später kommt, das wird sich zeigen. Und wie Jens schon sagte: Es ist in den Kapuzinerklöstern unvorhersehbar, und das finde ich auch gut, weil es mich daran erinnert, dass es nicht um unsere Pläne geht, sondern dass auch der Heilige Geist uns trägt und vielleicht auch etwas ganz anderes will als wir. Das Schöne ist einfach, jeden Morgen aufzuwachen und zu fragen: Gott, was willst du heute von mir – nicht morgen.
Was würden Sie jemandem mit auf den Weg geben, der eine geistliche Berufung für ein Leben in einer Gemeinschaft in sich trägt?
Br. Thomas: Es ist ein wunderschönes Leben in innerer Freiheit, in dem man aber auch getragen wird und nicht alles selber machen muss. Deswegen würde ich mit auf den Weg geben: Hab keine Angst! Und: Du musst nicht die Erwartung an dich haben, perfekt zu sein. Gott ist der Letzte, der das von dir erwartet. Aber ich glaube fest daran, dass uns Gott alles, was wir brauchen, für unseren Weg mitgibt. Zu dieser Freiheit gehört außerdem auch, das einfach annehmen zu können, statt zu versuchen, irgendetwas aus sich selbst hervorzubringen.
Br. Jens: Traue dich, eine Entscheidung zu fällen! Wir besitzen die Größe, dass wir uns selbst entscheiden dürfen. Wenn wir uns allerdings nicht entscheiden, wird das jemand anderes für uns tun. Außerdem würde ich raten: Du tust das nicht wegen der anderen, die schon da sind, sondern du tust es wegen dir und deinem Gott.
Das Interview führte Johanna Beck für Christ in der Gegenwart. Das Gespräch ist in der Ausgabe 32–2023 Anfang August 2023 erschienen. Zur Website von Christ in der Gegenwart kommen Sie hier.