
FOTO: KAPUZINER/LEMRICH
BR. Jürgen Meyer
wurde 1947 in Osnabrück geboren. Der Kapuziner lebt seit 2004 im Kloster zum Mitleben in Stühlingen.
„Eine gute Entscheidung ist wie eine Quelle“
Theologie statt Logistik: Bruder Jürgen Meyer hat sich für ein Leben als Kapuziner entschieden. Im Interview sagt der Ordensmann, wie man zu einer guten Entscheidung kommt, welche Rolle Gott dabei spielt und warum Zeit ein wichtiger Faktor ist.
Bruder Jürgen, was war die wichtigste Entscheidung Ihres Lebens?
Die wichtigste Entscheidung in meinem Leben war die, in den Kapuzinerorden einzutreten. Diesem Entschluss gingen Vorstufen voraus, da ich schon 13 Jahre vorher im kirchlichen Dienst gearbeitet habe.
Wann war Ihnen klar, dass Sie diese Entscheidung treffen werden?
Das war erst mit knapp 40 Jahren, als ich als Gemeindereferent in der Diözese Osnabrück tätig war, zuletzt in Ostfriesland. Ich war schon immer auf der Suche. Ich habe mich gefragt: Wie kann ich mein Leben noch mehr konkretisieren, wie kann ich es auf meine Berufung hin zuspitzen?
Die Frage nach dem richtigen Weg.
Ja, genau. Ich habe Theologie studiert und bin dann Gemeindereferent geworden. Durch einen Pastoralkurs war ich dann auch fit für den Schuldienst und für verschiedene Aufgaben in der Pfarrgemeinde.
Sie stammen aus einer Unternehmerfamilie, die ein großes, mittelständisches Transport- und Logistikunternehmen führt. Da war die Entscheidung für ein Theologiestudium nicht selbstverständlich.
Nein, in der Tat. Das war am Anfang ein bisschen schwierig (lacht). Die Eltern waren eher skeptisch, als ich ankündigte, Theologe werden zu wollen.
Sie haben drei Geschwister.
Wie waren vier Brüder, ich war der Zweitälteste. Der Älteste ist in den gymnasialen Schuldienst gegangen, mit den Fächern Theologie und Germanistik. Er war verheiratet und hat zwei Söhne. Für mich ergab sich erst nach einigem Suchen das rechte Ziel. Ich wollte gern in den pastoralen Dienst. Vieles stand zur Debatte: Priester werden, oder eine Tätigkeit als Gemeinde- oder Pastoralreferent. Ich studierte Theologie in Münster und absolvierte dann in der Diözese Trier einen „Pastoralkurs“, der sowohl für Diakone, Pastoralreferenten als auch Priesteramtskandidaten ausgeschrieben war.
Und warum haben Sie sich dann für den Orden entschieden?
Ich bekam eine Anstellung als Gemeindereferent und arbeitete dreizehn Jahre in diesem Beruf, zunächst vier Jahre in der Diözese Trier, dann wieder in Osnabrück, zuletzt sechs Jahre in Ostfriesland. Mein Lebens-Stand war der eines ledigen Mannes. Da mich das nicht ganz zufriedenstellte, suchte ich weiter. In der Gemeinschaft der Kapuziner fand ich eine neue Heimat – für mich persönlich und für meinen Beruf.
Wollte Ihr Vater nicht, dass Sie in seine Fußstapfen treten und sich für die Firma entscheiden?
Nein, mein Vater hat seinen Weg und das fokussierte Erfolgsdenken eines Unternehmers auch selber in Frage gestellt. Wir waren vier Söhne, und erst der Jüngste hat sich dann für die Logistik interessiert und die Leitung übernommen. Wir anderen durften unseren eigenen Weg gehen – und zwei sind Theologen geworden. Mein Vater hatte immer einen scharfen Blick dafür, dass viele Dinge – und gerade äußere Erfolge im Geschäftsleben – relativ sind.
Haben Sie sich mal darüber Gedanken gemacht, was aus Ihrem Leben geworden wäre, wenn Sie Speditionskaufmann statt Kapuziner geworden wären?
Nein, ich kann das gar nicht denken. Da besitze ich keine Vorstellungskraft, denn es stand nie zur Debatte für mich. Natürlich interessiere ich mich dafür, was zuhause so läuft. Aber beruflich war das nie, nie eine Option.
Sie haben mit dem Eintritt in den Orden auch auf Ihr Erbe verzichtet.
Das stimmt. Aber dieser Erbverzicht hat mir nie viel ausgemacht. Ich habe die Entscheidung nie bereut. Wenn ich mit meinem Entschluss gerungen habe, dann aus anderen Gründen, aber sicher nicht vor dem Hintergrund, dass ich hätte Firmenchef werden können.
„Ich habe die Entscheidung nie bereut“, sagen Sie. Sie sind jetzt 73, leben also über 30 Jahre im Orden. Was waren wichtige Wegmarken, die die Bedeutung der Entscheidung immer wieder klar gemacht haben?
Dieser Schritt ist in einem Prozess gereift. Mit der Entscheidung für ein Ordensleben bei den Kapuzinern ist allerdings eine Menge mehr verbunden. Es ist auch eine Einordnung in eine Alltagsgemeinschaft, zumindest bei uns Kapuzinern. Wir sind ja nicht nur strukturierte Junggesellen, sondern wir leben in einer kirchlichen Offenheit füreinander. Darauf war ich nicht unmittelbar vorbereitet, denn ich kam aus einer einsameren Lebenssituation. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist der Verzicht auf ein Familienleben.
Sie sind jetzt 73 und haben schon die ein oder andere wichtige Entscheidung getroffen, über ein paar haben wir gesprochen. Wenn Sie vor einer wichtigen Entscheidung stehen, wie ist Ihre Herangehensweise?
Aufgrund meiner eigenen, etwas komplizierteren Lebensgeschichte gehe ich mit Entscheidungen sehr vorsichtig um. Ich denke, dass wir oft mit sogenannten Bauchentscheidungen danebengreifen. Ich versuche hingegen, alles zu sortieren. Geht es um etwas, das mir wichtig ist – oder lohnt sich vielleicht auch der Kampf gar nicht?
Dazu braucht es Zeit.
Ja, in der Tat. Ich lasse mir Zeit, gehe dem Für und Wider ein paar Tage nach. Eine Entscheidung muss gut vorbereitet sein. Schnell zu entscheiden ist heute angesagt, gilt als sexy. Aber oft kommt die Abwägung zu kurz. Dafür setze ich mich auch im Orden ein, wo ich in einer Arbeitsgruppe, in der es um die Zukunft der Kapuziner geht, mitarbeite. Ich finde: Jeder Mitbruder sollte sich selber ein Bild machen, wie die Situation des Ordens ist und welche Optionen für die Zukunft bestehen. Nur so kann jeder ein Urteil treffen, zu dem er dann auch später stehen kann.
Kann man Entscheidungen in Gottes Hand legen?
Ich denke dabei eher an die Person von Jesus. In der Begegnung mit ihm, im Gespräch mit ihm, da entstehen Prioritäten. Wenn wir zulassen, dass er uns über die Schulter schaut und ihn einbeziehen, dann können wir in einen inneren Dialog mit ihm kommen und unsere Fragen gemeinsam angehen.
Und wie wird aus diesem Dialog eine Entscheidung?
Erstmal geht es um die eigenen persönlichen Grenzen und Möglichkeiten. Und um den Fokus auf die Themen „Nächstenliebe“ und „Zuwendung zum Anderen“, wie ihn auch der jesuanisch-biblische Zusammenhang hergibt. Wir treffen immer wieder Entscheidungen, die nicht nur auf der Grundlage von schon verfügbarem Fakten-Wissen gefällt werden. Eine Entscheidung bildet sich nach sorgfältiger Prüfung, bei der auch die Außenansicht zugelassen ist und uns andere Rückmeldung geben.
Das heißt, auf Gott hören, aber auch auf vertraute Menschen?
Ja, genau. Die Beziehung zu Gott wächst mit der Beziehung zu vertrauten Menschen zusammen, denen wir Einblick geben in unseren Weg. Es hilft, sie zu fragen, wie sie zu einer Entscheidung stehen. Dadurch werden wir infrage gestellt und es entsteht so etwas wie eine leere Leinwand. Alles muss neu durchdacht, neu gefühlt und neu bestimmt werden. Eine gute Entscheidung ist so etwas wie eine Quelle. Sie entsteht in uns und begründet sich in den verschiedensten Rinnsalen und Ursachen.
Wie fühlt man, dass es die richtige Entscheidung war?
Es entsteht eine innere Ruhe und Zuversicht. Das ist das wichtigste Kriterium. Der Weg dahin ist von Unruhe und Zuwarten geprägt. Um das Bild der Quelle aufzugreifen: Erst ist es nur ein Wässerchen, dann wird es zu einem Bach, zu einem Fluss und schließlich zu einem breiten Strom. Das braucht sehr viel Geduld – und alles andere ergibt sich dann.
Bruder Jürgen, vielen Dank für das Gespräch!