Interview

FOTO: KAPUZINER/LEMRICH

23. Juni 2023

„Ich habe gespürt, dass Gott mich zieht“

Br. Micha­el Wies ist Kapu­zi­ner und Lei­ter des Fran­zis­kus­treffs sowie der ört­li­chen Brü­der­ge­mein­schaft in Frank­furt. Im Inter­view spricht der 40-Jäh­ri­ge über sei­nen unge­wöhn­li­chen Lebens­weg vom Büro­kauf­mann zum fran­zis­ka­ni­schen Ordensmann.

Bru­der Micha­el, wel­chen Beruf hat­ten Sie ursprünglich?
Ich bin gelern­ter Büro­kauf­mann, mit Fach­ab­itur in Wirt­schaft und Ver­wal­tung. Im Alter von 17 bis 24 Jah­ren habe ich in Ver­wal­tun­gen gear­bei­tet, zum Bei­spiel in einem Kran­ken­haus und einem Versicherungsunternehmen.

Wie war Ihre ursprüng­li­che Lebensplanung?
Dass ich wei­ter in Coes­feld geblie­ben und mei­nem Beruf nach­ge­gan­gen wäre. Ich hät­te mich viel mit mei­nen Freun­den getrof­fen, und ich hät­te auch ger­ne eine Fami­lie gegründet.

Sie hat­ten eine Freundin?
Ja, ich hat­te Freundinnen.

Und dann kam das Jahr 2006. Da waren sie 24 Jah­re alt und haben an einer Wall­fahrt ins fran­zö­si­sche Vezelay in Bur­gund teilgenommen.
Eigent­lich woll­te ich zusam­men mit Freun­den in Urlaub fah­ren, aber gera­de in die­ser Woche hat­te kei­ner von ihnen Zeit. So habe ich mich kurz­ent­schlos­sen bei die­ser Stern­wall­fahrt ange­mel­det. Ich wan­der­te dann in einer klei­nen Grup­pe, zusam­men mit Ordens­leu­ten und Nicht-Ordens­leu­ten. Das The­ma lau­te­te „Auf zu neu­en Hori­zon­ten“ – und das pass­te für mich.

Waren Sie unzu­frie­den mit ihrem Leben?
Unzu­frie­den nicht unbe­dingt, aber die Arbeit hat mich nicht mehr so aus­ge­füllt. Und wenn ich mit mei­nen Freun­den auf Par­ty gegan­gen bin, war das auch nicht mehr so doll.

Hat­ten Sie schon immer einen Bezug zur Kirche?
Ja, ich war Mess­dien­erlei­ter und Vor­stands­mit­glied des Feri­en­werks in mei­ner Gemein­de in Coes­feld. Aber auch die ver­schie­de­nen Ämter ver­lo­ren irgend­wann ihren Reiz.

Was pas­sier­te dann bei der Wallfahrt?
Ich habe ein­fach gespürt, dass Gott mich zieht, und dass mir auf ein­mal das Beten so wich­tig war. Dort bin ich auf die Bio­gra­fie des hei­li­gen Fran­zis­kus und der hei­li­gen Kla­ra gesto­ßen. Die­se Radi­ka­li­tät von Franz von Assi­si, alles ste­hen und lie­gen zu las­sen, um bei den Armen zu sein, hat mich nicht mehr losgelassen.

Gab es einen ent­schei­den­den Moment, in dem sie wuss­ten: Ich ände­re jetzt mein Leben komplett?
Es gab letzt­lich zwei Momen­te. Ein­mal habe ich gedacht: Ich will doch nicht alles her­ge­ben, was ich habe. Ich bin doch ein Familienmensch!

Was hat Sie dann end­gül­tig hin­ge­zo­gen zu Gott?
Ich habe das dem Herr­gott hin­ge­legt – im Gebet. Und dann habe ich mich noch­mal mit einem erfah­re­nen Ordens­bru­der bespro­chen auf einem lan­gen Wanderweg.

Wenn man Freun­den erzählt, dass man ins Klos­ter geht, dann schockt man die erstmal.

Wie war das dann, als die Beru­fung ganz klar war?
Irgend­wann ist man in sich ruhend. Das Frü­he­re war dann ein­fach nicht mehr so attrak­tiv für mich. Das spürt man, und dann geht man die­sen Schritt. Bei Füh­run­gen mit Schul­klas­sen sage ich manch­mal, man kann ja in der Theo­rie über das Küs­sen nach­den­ken, aber wenn man es nicht prak­ti­ziert, dann weiß man nicht, wie das ist.

Wie war es, sich von den Freun­den zu trennen?
Sehr schwie­rig. Wenn man Freun­den erzählt, dass man ins Klos­ter geht, dann schockt man die erst­mal. Auch die Eltern, Groß­el­tern, alle! Das Los­ei­sen war nicht ein­fach. Aber ich wuss­te, ich muss es machen, sonst wer­de ich nicht glücklich.

Nimmt der Habit nicht etwas von der Indi­vi­dua­li­tät? Möch­ten Sie nicht manch­mal in Jeans und T‑Shirt herumlaufen?
Ab und zu kann ich das auch, wenn ich zum Bei­spiel zum Sport gehe. Ich gehe regel­mä­ßig Schwimmen.

Das ist ja kei­ne Last für mich, son­dern eine Lebensform.

Wenn ein Rich­ter sei­ne Robe über­streift, kann er sie nach ein paar Stun­den wie­der ausziehen.
Das ist ja kei­ne Last für mich, son­dern eine Lebens­form. Das Gewand trägt eine Bot­schaft in sich. Ich möch­te ja den Men­schen Chris­tus ver­kün­den. Und der Strick, mit dem der Habit um die Hüf­te zusam­men­ge­hal­ten wird, hat drei Kno­ten auf der rech­ten Sei­te – die ste­hen für die drei Gelüb­de Armut, Gehor­sam und Keuschheit.

Apro­pos Keusch­heit: Wie ist das, wenn man weiß: Ich blei­be jetzt mein gan­zes Leben lang Ordens­bru­der, selbst wenn ich eine total net­te und attrak­ti­ve Frau ken­nen­ler­nen würde.
Man muss doch in jeder Bezie­hung jeden Tag neu inner­lich ja sagen, auch wenn man ver­hei­ra­tet ist oder eine Freun­din hat. Die Fra­ge ist doch: Wie ernst nimmt man den Stand, den man sich erwählt hat?

Was haben Sie als Ordens­bru­der über die Keusch­heit gelernt? 
Das kann ich prag­ma­tisch beant­wor­ten. Unser Novi­zen­lei­ter hat gesagt: In der Seel­sor­ge wer­det ihr vie­le Frau­en ken­nen­ler­nen, und wenn ihr euch da nicht für euren Weg ent­schei­det, wer­de ihr immer schlingern.

Gibt es etwas, dass Sie als Ordens­mann noch mal über­rascht hat?
Dass mein Orden mich zum Stu­die­ren geschickt hat – zum Stu­di­um der Sozia­len Arbeit und der Sozi­al­päd­ago­gik. Das hat­te ich nicht auf mei­nem Plan, das war eine Hori­zont­er­wei­te­rung. Und auch das Jahr auf den Phil­ip­pi­nen, 2013/14, da habe ich begrif­fen: Wir sind ein Weltor­den, welt­weit ver­netzt. Die­se Inter­na­tio­na­li­tät und Inter­kul­tu­ra­li­tät habe ich vor­her nicht gesehen.

Sie haben täg­lich mit Armen und Obdach­lo­sen zu tun. Sehen Sie in ihnen Christus?
Ja, ich sehe in ihnen eine per­so­na­li­sier­te Wür­de. Man darf Men­schen nicht nach dem Aus­se­hen beur­tei­len. Obdach­lo­se erin­nern mich auch dar­an, wie bruch­stück­haft das Leben ist und wie schnell es eine ande­re Bahn neh­men kann. Von Obdach­lo­sen kann man auch Demut ler­nen. Wer obdach­los ist, hat nichts – nur das, was er bei sich hat. Das sind Lebens­künst­ler, Über­le­bens­künst­ler, die mit einem Mini­mum klar­kom­men. „Nor­ma­le“ Bür­ger wür­den doch, wenn sie auf der Stra­ße leben müss­ten, bei zwei Grad Minus schnell eine Lun­gen­ent­zün­dung bekom­men und sterben.

Alle sind auf der Suche. Und das Leben ist nicht immer nur Freude.

Ken­nen Sie Ban­ker oder ande­re – nach außen hin – erfolg­rei­che Unter­neh­mer, die mit ihrem Leben unzu­frie­den sind?
Ja, Ban­ker, Rechts­an­wäl­te, Poli­ti­ker. Das war für mich eigent­lich das Über­ra­schends­te: In dem Moment, in dem ich Ordens­mann wur­de, bekam ich sehr viel Ver­trau­li­ches erzählt. Ich weiß inzwi­schen gan­ze Fami­li­en­ge­schich­ten und wer­de von vie­len Men­schen gebe­ten, etwas „mit ins Gebet zu neh­men“. Das ist ein Wahn­sinns-Ver­trau­ens­be­weis, aber auch eine Wahn­sinns-Auf­ga­be. Ich betreue zum Bei­spiel vie­le Stu­die­ren­de. Ich erfah­re Din­ge, die man nicht weiß, die man nicht so sagen wür­de, ich darf hin­ter die Kulis­sen gucken. Da wird einem klar: Alle sind auf der Suche. Und das Leben ist nicht immer nur Freu­de. Es ist auch Schei­tern und Veränderung.

Inter­view: Nor­bert Demuth, Kor­re­spon­dent der Katho­li­schen Nachrichten-Agentur

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