
FOTO: KAPUZINER/LEMRICH
BR. CHRISTOPHORUS GOEDEREIS
wurde 1965 in Nordhorn geboren. Seit 1984 ist er Kapuziner und lebt zurzeit im niederländischen Velp.
Kapuziner-Neuaufbruch in einem säkularisierten Land
Br. Christophorus Goedereis ist Kapuziner und lebt seit knapp zwei Jahren in den Niederlanden. Dort bereitet er einen Neuaufbruch im Kapuzinerkloster Velp vor. Wie die Situation von Kirche und Orden vor Ort ist, beschreibt er im Interview.
Br. Christophorus, seit 2022 leben und arbeiten Sie in den Niederlanden: Fühlen Sie sich dort zu Hause und wie klappt es mit der Sprache?
Ja, inzwischen bin ich dort angekommen und fühle mich daheim. Was die Sprache betrifft: Ich habe das Gefühl, dass es gut klappt. Die Sprache war mir ja nicht total fremd. Ich bin drei Kilometer von der niederländischen Grenze groß geworden und der Klang des Niederländischen ist mir seit Kindesbeinen vertraut.
Was vermissen Sie an Deutschland?
Das Einzige, das ich wirklich manchmal vermisse, sind deutsche Gottesdienste mit einer vertrauten Liturgie, mit kräftigem Gesang, gutem Orgelspiel und vielfältigen liturgischen Diensten.
Was ist Velp für ein Ort, und was macht ihn aus?
Mein Wohnort ist das Kapuzinerkloster in Velp bei Grave, wo wir einen neuen Aufbruch mit einer internationalen Gemeinschaft vorbereiten. Dort mag ich die Menschen, von denen ich mittlerweile viele kenne und die sich auf den Neustart der Kapuziner freuen. Da ich aushilfsweise in der Pfarrei mitarbeite, bin ich auch dort inzwischen zu Hause. Ich liebe das alte Kloster aus dem Jahr 1645. Ich liebe den morgendlichen Blick von meinem Zimmer auf den See hinter dem Kloster und ich liebe die traumhafte Natur, in der das Kloster liegt. Nicht zuletzt aber mag ich die nüchterne und tolerante niederländische Mentalität.
Es gibt eine starke Suche nach neuen Formen von Gemeinschaftsleben und nach Spiritualität.
Wie sind Sie an den Ort gekommen, an dem Sie leben?
Als ich noch Provinzial in Deutschland war, erhielt die deutsche Provinz den Auftrag, in den Niederlanden einen Neuaufbruch nach dem Vorbild des San Lorenzo Projekts zu initiieren. Dieses Projekt innerhalb des Kapuzinerordens versucht, an prägnanten Orten mit einer internationalen Gemeinschaft einen Neuaufbruch zu wagen. Die Brüder sollen dort ein Leben in Einfachheit führen mit Schwerpunkt auf Gemeinschaft, Gebet und Gastfreundschaft. Letztlich geht es darum, „die Flamme unseres Charismas neu zu entzünden“. Auf der Suche nach einem guten Platz dafür besuchte ich 2021 das für ein paar Jahre verlassene Kapuzinerkloster in Velp. Ich habe mich sofort in den Ort verliebt und sofort gespürt: Dies könnte der richtige Ort für einen Neuaufbruch sein.
Wie würden Sie das kirchliche und religiöse Umfeld beschreiben, in dem der Neuaufbruch stattfindet?
Da muss ich ein bisschen ausholen: Jahrhundertelang waren die Niederlande streng calvinistisch. Durch bestimmte politische Konstellationen kam es ab 1853 zu einem unglaublichen Aufschwung der katholischen Kirche. Die Klöster und Priesterseminare waren voll. Es gab katholische Zeitungen, katholische Schulen und katholische Fußballvereine. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch wurde diese katholische Säule der niederländischen Gesellschaft immer schwächer und das Phänomen der Säkularisierung immer stärker.
Entscheidend war das zweite Vatikanische Konzil.
So ist es. Nach dem Konzil in den 1960er Jahren kam es zum Knall: Das Pendel des sehr traditionell geprägten niederländischen Katholizismus schlug auf die andere Seite um. Von 1966 bis 1970 tagte in Noordwijkerhout das sogenannte Pastoralkonzil, um die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils umzusetzen. Das führte zu radikalen Neuerungen. Zum Beispiel votierte das Pastoralkonzil mit großer Mehrheit für die sofortige Abschaffung des Zölibats. In den folgenden Jahren kam es dann zu turbulenten Zuständen. Ein Beispiel: Priester heirateten und übten mit Erlaubnis des zuständigen Ortsbischofs weiterhin ihr Amt aus. Das alles führte zu einem großen Konflikt mit dem Heiligen Stuhl. Die Beschlüsse des Pastoralkonzils wurden für nichtig erklärt.
Ja, ich glaube an und hoffe auf neue Berufungen!
Die Folge war ein Exodus der Gläubigen.
Genau. Vieles von dem ist bis heute spürbar und klingt noch nach. Während das offizielle kirchliche Leben heute gen Null geht, gibt es laut soziologischen Studien mehr Sinnsucherinnen und Sinnsucher als in anderen europäischen Ländern. Es gibt eine starke Suche nach neuen Formen von Gemeinschaftsleben und nach Spiritualität. Themen wie Nachhaltigkeit und Schöpfung spielen in den säkularen Niederlanden eine große Rolle. Und die Niederländer haben das Pilgern, das spirituelle Unterwegssein wieder neu entdeckt.
Das birgt Chancen?
Natürlich! Am Emmausklooster in Velp etwa laufen zwei Pilgerwege entlang. Fast jede Nacht übernachten bei uns ein paar dieser modernen Sinnsucher. Die meisten sind nicht kirchlich oder explizit christlich unterwegs, aber eben doch offen für spirituelle Fragen. Das bedeutet auch, dass wir alle Angebote sehr niederschwellig ansetzen müssen.
Was macht dieser Trend, dass Kirche wegbricht, mit Ihnen persönlich, mit Ihrem Glauben?
Ich habe mich immer gerne auf der Grenzlinie zwischen Glauben und Kirche auf der einen und der postmodernen Gesellschaft auf der anderen Seite bewegt. Ich finde diese Herausforderung spannend und interessant. Kurzum: Mein Glaube wird durch die säkulare Realität eher inspiriert als bedrängt.
In welcher Situation befinden sich die niederländischen Kapuziner?
Die niederländische Provinz war früher eine der stärksten im Orden. In meinem Geburtsjahr 1965 gab es dort mehr als 600 Kapuziner. Heute gibt es dort es noch 24 niederländische Kapuziner, von denen der jüngste 67 Jahre alt ist.
Hofft man noch auf neue Berufungen?
Die niederländischen Brüder haben diese Hoffnung bereits vor 20 oder 30 Jahren aufgegeben. Ich selber wäre jedoch nicht hier, wenn ich nicht daran glauben würde, dass Gott auch heute noch Menschen in unsere franziskanische Lebensform beruft, auch in den Niederlanden. Daher: Ja, ich glaube an und hoffe auf neue Berufungen!
Der Kapuziner-Orden im Land hat also schon vor vielen Jahren sein eigenes Ende und Sterben in den Fokus genommen. Wie gehen die Brüder mit einem Neuaufbruch um?
Zu Anfang waren viele kritisch und skeptisch. Das ist auch okay und hilft mir selber, immer mehr in die kirchliche Realität der Niederlande einzudringen. Mittlerweile habe ich aber das Gefühl, dass sich zumindest einige der alten Brüder auch freuen, dass sich doch noch etwas bewegt und etwas weitergeht. Unter den alten Brüdern sind auch viele Missionare, die früher in Indonesien oder Tansania gewirkt haben. Aus diesen Ländern kommen nun neue Mitbrüder in die Niederlande. Für mich sind das die großen Bewegungen der Geschichte, und niemand von uns weiß, was der liebe Gott noch mit uns vorhat.
Werden wir mal etwas konkreter: Was für eine Gemeinschaft soll es werden in Velp?
Unsere internationalen Gemeinschaften im sogenannten Projekt San Lorenzo bestehen aus fünf bis sieben Brüdern. Die neue Gemeinschaft in Velp wird voraussichtlich aus sechs Brüdern bestehen, die aus Indonesien, Indien, Tansania, den Niederlanden und Deutschland kommen. Der Altersschnitt geht nach jetzigem Stand von 30 bis 82. Starten wollen wir Ende 2024.
Was sind die Herausforderungen einer international gemischten Gemeinschaft?
Diese liegen vor allem im Erlernen der Sprache, im Einleben in eine völlig andere Kultur sowie in eine total andere Situation von Kirche und Glaube. Und nicht zuletzt auch im Gewöhnen an Wetter und Essen. Darüber hinaus müssen alle miteinander lernen, dass unterschiedliche Kulturen im alltäglichen Leben unterschiedlich „ticken“. Aber eben darin liegt auch die Chance. Wir leben in Europa inzwischen überall in internationalen Gesellschaften – und die katholische Kirche, die eigentlich Weltkirche ist, tut sich offenbar nach wie vor schwer damit. Das ist doch eigentlich paradox. Das Wort katholisch bedeutet allumfasssend, weltweit. Ich sage gerne: In der immer internationaler werdenden Welt können wir nun endlich das werden, was wir eigentlich sind, nämlich katholisch (lacht).
Mein Glaube wird durch die säkulare Realität eher inspiriert als bedrängt.
Wie gehen Sie das Projekt konkret an?
Wir sind dabei, uns online kennenzulernen, uns auszutauschen und die Kandidaten inhaltlich vorzubereiten. Das gilt natürlich auch für die Sprache. Darüber hinaus erarbeite ich gerade für das erste Jahr vor Ort ein eigenes, internes Programm, bei dem es vor allem um die folgenden Dinge geht: Zeit füreinander haben, einander kennenlernen, zuhören, nicht urteilen, den Reichtum der Vielfalt entdecken und Probleme offen benennen usw. Nur so können wir miteinander und aneinander wachsen.
Wie sieht das Emmausklooster in Velp dann zukünftig aus?
In der Vision für das Projekts heißt es, dass der älteste kapuzinische Ort der Niederlande wieder zu einem Ort der Stille und des Gebets wird, der offen ist für Pilger, Sinnsucher und Interessierte an unserem Leben. Wir wollen ein intensives Gemeinschaftsleben und auch ein intensives Gebetsleben führen, das zumindest zum Teil offen steht für die Menschen. Gastfreundschaft wird eine wichtige Rolle spielen, ebenso der Dialog mit anderen Glaubensrichtungen, vor allem auch mit den protestantischen Kirchen.
Zur Person:
Br. Christophorus Goedereis (Jahrgang 1965) wurde in Nordhorn geboren. Seit 1984 ist er Kapuziner in der Deutschen Kapuzinerprovinz. Der Ordensmann leitete unter anderem das City-Kloster in Frankfurt am Main und war viele Jahre gewählter Provinzial der Provinz. Seit 2022 lebt der Ordensmann in den Niederlanden und bereit dort einen Neuaufbruch des Ordens im alten Kapuzinerkloster Velp vor. Br. Christophorus ist seit 2023 auch Delegat der „Lage Landen“, also der Vertreter des Provinzials in der Delegation „Belgien und Niederlande“, die als Teil der deutschen Kapuzinerprovinz die Klöster des Ordens in den beiden Ländern umfasst. Rund 60 Kapuziner leben in Belgien und Niederlande.
Das Interview führte Tobias Rauser