FOTO: KAPUZINER/JACOBY
SONNENGESANG
Der Sonnengesang des Franz von Assisi ist die älteste Überlieferung der italienischen Literatur, verfasst in einem umbrischen Dialekt. Franz von Assisi komponierte diesen Lobgesang vermutlich im Frühjahr des Jahres 1225. In diesem Text besingt der Heilige aus Umbrien die Gestirne sowie alle Geschöpfe, aber auch Krankheit und Tod als „Brüder und Schwestern“. Die ursprüngliche Melodie ist nicht mehr bekannt, dürfte aber einem Psalmton ähnlich gewesen sein.
Sonnengesang von Franziskus: Gebet und Weckruf
Er ist einer der bekanntesten Texte von Franziskus: der Sonnengesang. Vor knapp 800 Jahren verfasste der Ordensgründer diesen zeitlosen Lobgesang auf die Schöpfung. Das Gebet ist damals wie heute die Aufforderung zur Umkehr.
Mit dem Namen Franz von Assisi verbinden viele einen Öko-Heiligen. Eine Art Klimaaktivisten, der bereits im 13. Jahrhundert den Vögeln predigte und ein Loblied auf die Schöpfung sang. Diese Sichtweise greift natürlich viel zu kurz. Tatsache ist: Francesco, so der italienische Name des heiligen Franziskus, lebte in einer historischen Umbruchzeit, ähnlich wie wir heute. Im Übergang vom 12. zum 13. Jahrhundert kam der internationale Handel auf, die Welt begann sich zu globalisieren, das Geld wurde zum alles bestimmenden Machtmittel. Die mittelalterliche Ständegesellschaft brach zusammen, das Bürgertum mit seinen kommunalen und demokratischen Strukturen bahnte sich den Weg. Die Klimafrage stand noch nicht zur Debatte. Aber menschliche Ausbeutung und Ungerechtigkeit wurden bereits damals gerne ausgeblendet.
Vor diesem Zeithintergrund ist der Sonnengesang des heiligen Franziskus ein zeitloser Text, der niemals an Aktualität verliert. Als Erstes aber ist festzustellen: Der Sonnengesang ist ein Gebet. Aus verschiedenen Quellen erfahren wir, dass Franziskus dieses Gebet schrieb, als er todkrank in einer Hütte aus Strohmatten lag. Mäuse krabbelten über ihn hinweg, und aufgrund einer Augenkrankheit konnte er kaum noch sehen. Der außergewöhnliche Text des Sonnenlieds wurde also nicht an einem sonnigen Frühlingstag in romantischer Stimmung geschrieben, sondern brach hervor aus Krankheit und Not. Gleichsam ein Bild der Vollendung, das sich seinen Weg in einer düsteren Stunde bahnt. Beim Beten oder Singen des Sonnengesangs kann man aber auch an Jesus am Kreuz denken, der im Moment seiner tiefsten Gottverlassenheit seine Zuversicht hinausschreit: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“ (Lk 23, 46).
Damit sieht der Sonnengesang den gesamten Kosmos und alles, was in ihm geschieht, im Licht der Erlösung – ohne dabei den Schrei der verwundeten Menschheit und der verwundeten Schöpfung zu überhören. Und das versteckte Christusmonogramm (die Buchstaben der ersten beiden Wörter im italienischen Text „Altissimo Omnipotente“) verweist auf den Erlöser selbst: Christus, das Alpha und das Omega, den Anfang und das Ende von allem. Auch der Schlussvers macht noch einmal den Gebetscharakter dieses außergewöhnlichen Liedes deutlich: „Lobt und preist meinen Herrn und dankt ihm und dient ihm mit großer Demut.“ Ob am Ende sogar die 33 Verse des Sonnenlieds ein Verweis auf die 33 Lebensjahre Jesu sind, mag offenbleiben.
Der Sonnengesang des heiligen Franziskus fasziniert bis heute die Menschen. Aber er ist noch mehr als ein Lied und ein Gebet. Der Sonnengesang ist auch ein Weckruf, eine Aufforderung zur Umkehr. Daher fordert der Heilige in seinen „Ermahnungen“ seine Mitbrüder auch auf, wo immer sie predigen, anschließend dieses Lied zu singen. Damit stellt Franz von Assisi bis heute die Menschen vor die Frage, wie wir miteinander und mit der Schöpfung umgehen wollen.
Gut 30 Jahre nach der Entstehung des Sonnengesangs verfasste der große Franziskaner-Theologe Bonaventura von Bagnoregio sein Pilgerbuch „Itinerarium mentis in Deo“ (oft übersetzt mit: Pilgerbuch der Seele zu Gott). Darin schreibt er: „Die ganze Schöpfung ist eine Leiter, um zu Gott aufzusteigen. Wer von so viel Glanz der geschaffenen Dinge nicht erleuchtet wird, ist blind; wer von so vielen Ausrufen nicht aufgeweckt wird, ist taub; wer Gott für all diese vollbrachten Dinge nicht preist, ist stumm; wer aus so vielen Beweisen das erste Prinzip nicht erkennt, ist töricht. Öffne also deine Augen, lege deine geistigen Ohren an deine Ohren, löse deine Lippen und richte dein Herz, damit du in allen Geschöpfen deinen Gott siehst, hörst, lobst, liebst und anbetest, verherrlichst und ehrst.“
Im Jahr 2015 veröffentlichte Papst Franziskus die Enzyklika „Laudato si“. Darin bringt er seine Sorge um „das gemeinsame Haus“ (gemeint ist damit: die Schöpfung, die Erde, unser Planet) zum Ausdruck. Dass der Titel dieses Schreibens dem Sonnengesang entnommen ist, zeigt wie sehr Franz von Assisi auch 800 Jahre später der Welt noch etwas zu sagen hat. Die italienische Regisseurin Liliana Cavani, die zwei Filme über das Leben des heiligen Franziskus produzierte, hat einmal gesagt: „Franz von Assisi ist kein Mann der Vergangenheit, sondern eher eine Figur der Zukunft. Wenn wir Menschen überleben wollen, müssen wir alle ein bisschen mehr wie er werden.“ Wie recht sie doch hat.
Text: Br. Christophorus Goedereis
Der Artikel ist zuerst in cap!, dem Magazin der Kapuziner erschienen.