

FOTO: Tobias Rauser
BR. MARINUS PARZINGER
lebt als Kapuziner am Wallfahrtsort Altötting. Dort besuchen viele Pilgerinnen und Pilger die Bruder-Konrad-Kirche, in der sinnstiftende Vorsätze des heiligen Kapuziners in den Boden eingelassen sind.
Gut auf dem Weg
Kirche und Gesellschaft verändern sich – mit Folgen für Wallfahrtsorte wie Altötting. Doch Pilgern ist im Trend und bietet Orientierung. Ein Impuls von Br. Marinus Parzinger.
Altötting ist ein von Wallfahrt geprägter Ort. Religiös aufgeladen, gut erreichbar, mit umfassender Infrastruktur. Es klingt überzeichnet, trifft aber die Erfahrung: Hier vor Ort berühren sich Himmel und Erde. Altötting ist nicht nur ein marianisches Nationalheiligtum. Pilger kommen auch zum heiligen Bruder Konrad, einem Kapuziner. Er ist Christ im Alltag, Meister des Gebetes, er tut das Alltägliche in außergewöhnlicher Weise.
Altötting profitiert von Pilgern, die aus verschiedenen Regionen kommen. Sie sind eine Bereicherung für den Ort, für uns Kapuziner. Pilger sind Menschen, die einerseits die Tradition der Wallfahrt wachhalten, andererseits ihre Fragen mitbringen. Pilger zeigen uns, wie wichtig es ist, die Unbeweglichkeit zu überwinden und neu aufzubrechen – als Einzelne und als Gemeinschaft. Diese Haltung motiviert, selbst suchend unterwegs zu bleiben.
Doch klar ist auch: Die Wallfahrt in Altötting steht vor besonderen Herausforderungen. Eine Krise folgt der nächsten. Corona hat bewährte Strukturen geschwächt oder aufgelöst. Wege von Fußpilgergruppen müssen neu konzipiert werden, zum Beispiel weil Gasthäuser und Rastmöglichkeiten nicht mehr bestehen. Das Personal ist knapp. Auch sinkt die Zahl der Gottesdienstbesucher beständig, auch die Zahl der Priester und Mitarbeitenden in der Seelsorge geht deutlich zurück. Das Angebot in großflächigen Seelsorgeregionen wird dünn, sodass Wallfahrtsorte immer mehr die Funktion von geistlichen Zentren bekommen. Gefragt sind Orte, an denen Räume und Menschen offen sind für Begegnung, wo man erleben kann, wie Glauben geht, wo man eine authentische Erfahrung machen kann.
Pilgern lehrt, dass wir besser vorankommen, wenn wir Ballast abwerfen, wenn wir mit leichtem Gepäck unterwegs sind.
Auch die Pilger verändern sich: Die christlich geprägte Lebenskultur schwindet. Pilger sind stark individualisiert, ihre Lebensformen vielfältig. Sie kommen vermehrt als Einzelpilger oder sind Touristen in benachbarten Regionen, die den Wallfahrtsort besuchen. Die Bindekräfte, auch des Glaubens, haben erkennbar abgenommen. Wer heute glaubt, tut es entschieden. Daher haben wir es überwiegend mit einer klaren Motivation zu tun. Wer nach Altötting kommt, will etwas.
Pilgern hilft, mit Krisen umzugehen. Wer pilgert, bricht auf, setzt sich mit Wandel und Neubeginn auseinander. Pilgern lehrt, dass wir besser vorankommen, wenn wir Ballast abwerfen, wenn wir mit leichtem Gepäck unterwegs sind. Diese Einsicht trifft sich mit der Sehnsucht vieler Menschen, die bereit sind, sich in Frage stellen zu lassen, die Tiefe und Weite in ihrem Leben suchen.
Und ja, Christen schämen sich für ihre Kirche, das Thema Missbrauch ist da nur ein Thema. Von der befreienden und frohmachenden Botschaft ist oft wenig zu spüren. Doch gerade in Umbruchszeiten werden alte Formen wiederentdeckt. Die lange Geschichte des Ortes hilft: da ist etwas Beständiges, das sich bewährt hat und heute noch trägt. Zugleich gibt es den Wunsch nach neuer, zeitgemäßer Religiosität: angemessene Sprache, ansprechender Stil, niederschwellig im Angebot.
Pilger zeigen uns, wie wichtig es ist, die Unbeweglichkeit zu überwinden und neu aufzubrechen – als Einzelne und als Gemeinschaft.
Wallfahrt ist etwas Lebendiges, das sich wandelt. Was bedeutet das für uns? Pilgern ist ein Trend, aber kein Selbstläufer. Wir müssen uns auf die Chancen konzentrieren, unser Personal schulen, ehrenamtliche Helfer begleiten. Die Wallfahrtspastoral birgt Potenzial und hat eine hohe Relevanz: Pilger sind Grenzgänger auf Zeit. Pilgern ermöglicht das Transzendieren des Alltags. Rituale sind hilfreich, sie helfen Ohnmacht zu bewältigen und geben Orientierung.
Menschen haben dabei ihren eigenen Zugang und individuelle Motive. Sie machen subjektive Erfahrungen und probieren sich aus. Die Erwartungen sind biografiebezogen vielfältig, was Seelsorger herausfordert. Meine Erfahrung ist, dass Menschen am Pilgerort eher bereit sind, ihr Herz zu öffnen als im sozialen Nahbereich, der Wohnortpfarrei. Was im Alltag zugeschüttet und verborgen ist, kommt beim Pilgern an die Oberfläche, kommt ins Wort. Pilger erzählen am Ziel von ihren Erlebnissen und Erfahrungen. Sie deuten sie selbst. Sie wollen keine fertigen Antworten.
Franz von Assisi, unser Ordensgründer, mochte Orte mit besonderer Strahlkraft. Er hatte Rückzugsorte, an denen er Kraft schöpfen konnte. Im Leben braucht es ein Gegengewicht zur Aktivität. Die Spannung von aktivem und kontemplativem Leben findet sich schon in der Biographie des Franz von Assisi. Er ist Gott Sucher. Er sucht Frieden und Einheit mit allen Geschöpfen und der Mitwelt. Er versteht sich als Bruder aller Menschen. Die Spiritualität von Orden prägte und prägt auch heute die Seelsorge an Pilgerstätten.
Auf dem Weg sein mit Gott ist ein altes, biblisches Bild und zugleich eine Verstehenshilfe menschlicher Existenz. Das franziskanische Selbstverständnis passt dazu: die Bereitschaft im Vertrauen auf Gott loszulassen, mit flacher Hierarchie und einem Minimum an Absicherung „Gast auf Erden“ zu sein. Mit der Hoffnung, einmal für immer anzukommen.
Unsere franziskanische Berufung stellt uns an die Seite der Menschen. Wir begleiten, wir bieten Gastfreundschaft, wir geben Anteil an unserer Spiritualität. In einer zunehmend individualisierten Gesellschaft wächst der Wunsch nach einem Leben in Gemeinschaft, das zum Zeichen wird. Gefragt ist das Zeugnis einer geschwisterlichen Gemeinschaft, die das Evangelium Jesu Christi zum Maßstab der Lebensgestaltung macht. Der Glaube, dass es für mich und jeden Menschen einen Weg gibt und auch ein Ziel, an dem ich mit Gottes Hilfe ankommen kann, weckt Hoffnung und bestärkt. Die Höhen und Tiefen auf dem Weg sind leichter zu bewältigen, wenn ich Gefährtenschaft erfahre.