FOTO: KAPUZINER/LEMRICH
Welttag der Armen: Barmherzigkeit als Standortbestimmung
Am 19. November ist der „Welttag der Armen“. Br. Helmut Rakowski verweist auf Papst Franziskus: Es geht an diesem Tag nicht nur um die Bedürftigkeit, sondern vor allem um die Würde der Menschen am Rand.
Barmherzigkeit ist das große Leitmotiv von Papst Franziskus. Direkt nach seiner Wahl sprach er über das Buch von Kardinal Kasper zur Barmherzigkeit. Es „hat mir so gut, so gut getan … Kardinal Kasper sagte, dass dieses Wort alles ändert“. Und er erzählte auch, wie Kardinal Cláudio Hummes ihm ins Stammbuch geschrieben hat „Vergiss die Armen nicht!“.
Kaum mehr als ein Jahr nach der Wahl von Jorge Bergoglio begann im Vatikan eine verschwiegene Aktion. Der damalige „Päpstliche Rat zur Förderung der Neuevangelisierung“, dessen Mitarbeiter ich von 2013 bis 2017 war, erhielt den Auftrag, die Möglichkeiten eines „außerordentlichen Heiligen Jahres der Barmherzigkeit“ auszuloten. Nichts drang aus unserer Arbeitsgruppe nach außen, sodass den meisten der anwesenden Kardinäle und Prälaten vor Überraschung die Kinnlade herunterklappte, als der Pontifex am zweiten Jahrestag seiner Wahl ein Heiliges Jahr der Barmherzigkeit ausrief: „Ich bin überzeugt, dass die ganze Kirche – sie selbst hat es so nötig, Barmherzigkeit zu erlangen, weil wir Sünder sind – in diesem Jubiläum die Freude finden wird, die Barmherzigkeit Gottes neu zu entdecken und fruchtbar zu machen.“
Ich will mich hier nicht über dieses außerordentliche Heilige Jahr auslassen, das vom 8. Dezember 2015 bis zum 20. November 2016 begangen wurde, sondern auf zwei außergewöhnliche Großereignisse blicken, die sozusagen den Höhepunkt vor der Schließung der heiligen Pforte bildeten. Am 6. November pilgerten über 1.000 Strafgefangene in den Petersdom zum Gottesdienst mit dem Heiligen Vater. Während sich die Päpste in anderen Jahren in das nahe gelegene Gefängnis Regina Coeli aufmachten, hatte Franziskus in den Vatikan eingeladen.
Keine leichte logistische Aufgabe, denn auch der Papstbesuch eines Sträflings muss von einem Richter in jedem Einzelfall genehmigt und die Reise minutengenau festgelegt werden. Für viele dieser Insassen italienischer Gefängnisse war es ein anrührender Moment, hatten doch die allermeisten noch nie die Petersbasilika betreten, geschweige denn den Papst persönlich gesehen.
Acht Tage später folgten über 4.000 von Obdachlosigkeit, Armut und Ausgrenzung betroffenen Menschen aus über 20 Ländern der Einladung „Wir Armen mit Papst Franziskus auf dem Weg nach Rom in das Herz der Kirche“. Dieses letzte Großereignis im Heiligen Jahr hat Papst Franziskus so berührt, dass er nur eine Woche danach die Einführung eines Welttages der Armen verfügte. „Vor dem Hintergrund des ‚Jubiläums für die von der Gesellschaft Ausgeschlossenen‘ … kam mir der Gedanke, dass als weiteres konkretes Zeichen dieses Außerordentlichen Heiligen Jahres … in der ganzen Kirche der Welttag der Armen begangen werden soll, … denn Jesus Christus hat sich mit den Geringen und den Armen identifiziert und wird uns nach den Werken der Barmherzigkeit richten (vgl. Mt 25,31–46). Es wird ein Tag sein, der den Gemeinden und jedem Getauften hilft, darüber nachzudenken, wie die Armut ein Herzensanliegen des Evangeliums ist und dass es keine Gerechtigkeit noch sozialen Frieden geben kann, solange Lazarus vor der Tür unseres Hauses liegt (vgl. Lk 16,19–21). Dieser Tag wird auch eine echte Form der Neuevangelisierung darstellen (vgl. Mt 11,5), durch die das Antlitz der Kirche in ihrer ständigen pastoralen Umkehr erneuert wird, um Zeugin der Barmherzigkeit zu sein.“
Hatte Benedikt XVI. den Auftrag der Neuevangelisierung mit einer verstärkten Glaubensunterweisung, einer Erneuerung der Beichtpraxis sowie der eucharistischen Anbetung verknüpft, so fügte Franziskus das populäre Phänomen der Wallfahrt und des Pilgerns sowie die Sorge um die Armen als Grundpfeiler einer Erneuerung von Kirche und Glauben hinzu. All das geprägt vom Leitmotiv der Barmherzigkeit.
Franziskus setzt auf eine neue Dynamik. Statt sich als Kirche kurz aufzumachen und gute Werke zu verrichten, um danach weiterzumachen wie bisher, holt „der Papst vom Ende der Welt“ die Menschen vom Rand in „das Herz der Kirche“ hinein. Sie sind nicht Objekte kirchlichen Handelns, sondern Subjekte und verändern die Kirche durch diese neue Schwerpunktsetzung. Ich erinnere mich an den Satz einer Franziskanerin, die uns Kapuzinern einen Impuls zu unserem Armutsgelübde gab. „Seht zu, dass jeder von euch mit einer Familie oder einer Person befreundet ist, die finanziell am Minimum lebt.“ Befreundet! Das ist mehr als ein professionelles Verhältnis des Helfens oder großzügiges Spenden. Das ist das Hineintauchen in die Lebenswelt des oder der anderen.
Neben dem „Hineinholen“ gibt es noch einen weiteren Ansatz, nämlich den des Standortwechsels. Wer die Armen zum Freund, zur Freundin hat, begibt sich selbst aus der Mitte der Gesellschaft an den Rand, erweitert die eigene Perspektive. Dazu muss man sich nur einen Kreis vorstellen. Das Gesichtsfeld eines Erwachsenen beträgt ca. 214°. Stehe ich im Zentrum, dann sehe ich einen bestimmten Bereich. Begebe ich mich dagegen an den Rand des Kreises, dann ist die Fläche, die ich wahrnehmen kann, viel größer. Ich sehe mehr, sehe neue Zusammenhänge, sehe manchmal sogar tiefer. Die Option für die Armen heißt nicht, nur die Armen zu sehen, sondern die Welt aus der Sicht der Armen wahrzunehmen.
Hier kann sich meiner Meinung nach die Thematik des Welttages der Armen noch weiterentwickeln. Wir sehen diesen Tag aus der westlichen Sicht, wo die Armen nicht wirklich Teil der Gesellschaft sind, sondern vor den Kirchen und Konsumtempeln um Almosen bitten. Dagegen bestehen im Süden der Welt die Gemeinden zu einem großen Teil aus Armen, die die große Mehrheit der Bevölkerung sind: Kleinbauern, Tagelöhner oder Arbeitsmigranten, die versuchen, ihre Familien zu ernähren und ihren Kindern eine bessere Zukunft zu schenken.
In meinen acht Jahren in einem Indiodorf in Südmexiko habe ich viel von der Großzügigkeit dieser Menschen erlebt. „Wo zehn Personen von Tortillas und Bohnen satt werden, da können wir auch noch ein Waisenkind aufnehmen.“ Die Solidarität unter finanziell Armen ist oft hoch. In Rom hatte ich mit Maria aus Lettland Bekanntschaft geschlossen, die in der Metrostation Barberini um Almosen bat. Wenn ich vorbeikam, unterhielten wir uns und einmal im Monat gab ich ihr einen größeren Betrag. Als ich eines Tages von einer schwierigen Zahnbehandlung erzählte, bot Sie mir – wie selbstverständlich – Hilfe an.
Vielleicht sollten wir am Welttag der Armen nicht nur Bedürftigkeit wahrnehmen, sondern auch vermehrt die Würde der Menschen am Rand. Es gilt den Einsatz für sie zu verstärken und gleichzeitig von ihnen zu lernen: z. B. Dankbarkeit, Genügsamkeit und Solidarität. Dann ist der Welttag mehr als ein Thementag. Dann verändert er unser Kirchenbild und wir bemerken, dass viele der Armen getauft sind und damit Teil der Kirche.
Zur Person: Br. Helmut Rakowski ist Jahrgang 1962 und seit 1981 Kapuziner. Viele Jahre lebte der Priester als Seelsorger beim Volk der Mixteken in den Bergen Südmexikos. Zehn Jahre war der Ordensmann von Rom aus verantwortlich für die missionarischen Aktivitäten der Kapuziner weltweit. Von 2013 bis 2017 arbeitete Br. Helmut im Päpstlichen Rat zur Förderung der Neuevangelisierung, 2018 bis 2022 war er Geistlicher Direktor der Katholischen Journalistenschule ifp in München. Im Juni 2022 wählten ihn seine Mitbrüder zum Provinzial der Deutschen Kapuzinerprovinz, die aus Klöstern in in Deutschland, West-Österreich, Belgien und den Niederlanden besteht.
Dieser Beitrag ist zuerst in CKD-Direkt erschienen.